Vergiss den Sommer nicht (German Edition)
die Kaugummis ein und ließ die paar Cents Wechselgeld in ihren Trinkgeldbecher fallen.
»Schönen Tag noch«, sagte sie und räusperte sich dann. »Also, ich hoffe, alles geht … gut aus.«
Erst da schaute ich sie wirklich an. Sie war schon älter, eher im Alter meiner Großmutter, hatte ein Namensschild anstecken und einen freundlichen Blick. Er war anders als die ständigen Trauermienen und voreiligen Beileidsbekundungen, die mir in Connecticut so auf die Nerven gegangen waren, und er störte mich überhaupt nicht. Sie musste den ganzen Tag lang Leute sehen, die eigentlich gar nicht in diesem Krankenhaus sein wollten, die in ihren Laden kamen und nach etwas suchten, das sie kaufen konnten, einen billigen Teddy oder einen Blumenstrauß – um die Sache irgendwie ein bisschen besser zu machen.
»Danke«, sagte ich. Ich schaute noch einmal auf das Kärtchen und ging wieder hinaus ins Foyer. Diesmal ließ ich die Treppen Treppen sein und nahm den Fahrstuhl hinauf in die Onkologie. Das Kärtchen hatte mir eine unangenehme Wahrheit bewusst gemacht: Ich konnte mich nicht erinnern, wann ich meinem Vater das letzte Mal gesagt hatte, dass ich ihn lieb hatte. Während der Fahrstuhl geräuschlos durch die Etagen glitt, dachte ich darüber nach. Ich wusste genau, dass ich ihm das ziemlich oft gesagt hatte, als ich noch kleiner war, wie unsere Videoaufnahmen belegten. Und seine Geburtstags- und Vatertagskarten unterschrieb ich immer mit Hab dich lieb. Deine Taylor. Aber hatte ich es ihm auch gesagt? Laut und deutlich und nicht vor Ewigkeiten?
Da ich mich nicht erinnern konnte, war die Antwort vermutlich nein. Dieser Gedanke bedrückte mich, und als ich wieder im Wartezimmer ankam, hatte ich nicht die geringste Lust, mich noch mal mit den abgegriffenen Zeitschriften zu beschäftigen. Als mein Vater endlich wieder auftauchte und fragte, ob es losgehen konnte, nickte ich ohne zu zögern.
Im Gegensatz zur Hinfahrt verlief die Fahrt nach Hause eher schweigsam. Mein Vater sah nach seinem Arzttermin völlig geschafft aus. Er hatte nicht mal versucht, sich ans Steuer zu setzen, sondern mir auf dem Parkplatz nur kommentarlos die Autoschlüssel zugeworfen. Auf den ersten Kilometern hatten wir uns noch ein bisschen unterhalten, aber dann fiel mir auf, dass mein Vater für seine Antworten immer länger brauchte. Ich schaute zu ihm rüber und sah, dass er den Kopf zurückgelehnt hatte und seine Augenlider immer wieder zuckend zufielen. Als wir den Highway nach Lake Phoenix erreicht hatten, musste ich beim Spurwechsel kurz auf seine Seite sehen, und da war er tief und fest eingeschlafen. Seine Augen waren geschlossen, der Kopfhing zurück und sein Mund stand ein bisschen offen. Das war ungewöhnlich, wenn nicht sogar erschreckend, denn mein Vater hatte tagsüber noch nie geschlafen. Zwar wusste ich, dass er seit einiger Zeit ein erhöhtes Schlafbedürfnis hatte, aber ich konnte mich nicht erinnern, ihn je tagsüber schlafend gesehen zuhaben – vor allem nicht so, nicht mitten am Nachmittag. Es machte mir irgendwie Angst, obwohl ich nicht mal genau sagen konnte warum. Am liebsten hätte ich Musik eingeschaltet, um dieses bedrückende Gefühl ein wenig zu übertönen. Aber andererseits wollte ich Dad auch nicht aufwecken. Also ließ ich das Radio ausgeschaltet, und die Stille, in der wir dahinfuhren, wurde nur vom leisen, gleichmäßigen Atmen meines Vaters unterbrochen.
Als wir in Lake Phoenix den Highway verließen, klingelte das Handy meines Vaters und schreckte uns beide hoch. Es schrillte sehr laut durch das stille Auto. Mein Vater fuhr aus dem Schlaf hoch, sein Kopf schnellte nach vorn und er rief: »Was?« Die Verwirrung in seiner Stimme, die Verletzlichkeit darin gefiel mir gar nicht. »Was ist los?«
Ich langte nach seinem Handy, das im Getränkehalter steckte, aber er war schneller und nahm das Gespräch an. Dabei strich er sich mit der Hand über sein notorisch ordentliches Haar, als ob er sichergehen wollte, dass es im Schlaf nicht durcheinandergeraten war. Innerhalb einer Sekunde wusste ich, dass meine Mutter am Telefon war, und nach ihrem kurzen Gespräch wirkte mein Vater gefasster und wieder mehr er selbst. Nachdem er aufgelegt hatte, war seine Stimme nicht mehr so schwer vom Schlaf.
»Deine Mutter will, dass wir fürs Abendbrot noch ein paar Einkäufe machen«, sagte er, »und mir ist außerdem gerade eingefallen, dass wir dieses Jahr ja noch gar nicht Eis essen waren. Ich für meinen Teil habe den Eindruck, dass die
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