Vergiss die Toten nicht
um ihre Gesundheit, denn ihre Großtante kränkelte schon seit einer Weile. Aber immerhin hat sie es geschafft, mehr oder weniger frisch und munter fünfundsiebzig zu werden. Also ist es von Adam nicht zu viel verlangt, sich heute Abend blicken zu lassen, überlegte Nell. Sie wird schrecklich enttäuscht sein, wenn er nicht kommt.
Nach dieser Erkenntnis war Nells Lust, Adam anzurufen, um die Probleme zwischen ihnen aus der Welt zu schaffen, mit einem Mal wie weggeblasen. Irgendwann würde sich schon alles klären, dessen war sie sicher. Doch den ersten Schritt wollte sie nicht machen – jedenfalls nicht jetzt gleich.
8
D
an Minor hatte zwar die Körpergröße und die breiten Schultern seines Vaters geerbt, aber nicht dessen Gesicht. Preston Minors markante, aristokratische und ebenmäßige Züge hatten sich mit denen der sanften, hübschen Kathryn Quinn vermischt.
Dans Augen, eisblau wie die seines Vaters, wirkten in seinem Gesicht viel dunkler und wärmer. Mund und Kinn waren gerundeter und weniger scharf geschnitten. Außerdem hatte Dan dem quinnschen Erbgut einen hellblonden Wuschelkopf zu verdanken.
Ein Kollege hatte einmal angemerkt, dass Dan selbst in Khakihosen, Turnschuhen und T-Shirt aussah wie ein typischer Arzt, und diese Beobachtung traf zu. Wenn Dan jemanden begrüßte, geschah das mit aufrichtigem Interesse – gefolgt von einem forschenden Blick, so als wolle er sichergehen, dass seinem Gegenüber auch wirklich nichts fehlte. Vielleicht hatte das Schicksal ihn dazu bestimmt, Arzt zu werden, jedenfalls war das von jeher sein größter Wunsch gewesen. Sogar das Fachgebiet stand für ihn von Anfang an fest: die Kinderchirurgie.
Diese Entscheidung hatte sehr persönliche Gründe, von denen nur sehr wenige Menschen wussten.
Dan war in Chevy Chase, Maryland, bei den Eltern seiner Mutter aufgewachsen. Schon als kleiner Junge hatte er seinem Vater bei dessen seltenen Besuchen zunehmend die kalte Schulter gezeigt, eine Abneigung, die sich schließlich in Verachtung verwandelte. Seine Mutter hatte er seit seinem sechsten Lebensjahr nicht mehr gesehen, doch er trug immer ein Foto von ihr in einem Geheimfach seiner Brieftasche bei sich.
Auf dem Bild, das an seinem zweiten Geburtstag entstanden war, schlang sie lächelnd die Arme um ihn, während der Wind ihr das Haar zerzauste. Eine anderes Erinnerungsstück an sie hatte er nicht.
Dan hatte seinen Abschluss an der Johns Hopkins Universität gemacht und dann im St. Gregory’s Hospital in Manhattan als Assistenzarzt gearbeitet. Als man ihm einige Jahre später dort eine Stelle als Chefarzt der neu gegründeten Abteilung für Brandverletzte anbot, sagte er zu. Denn da er von Natur aus ein unruhiger Geist war, hatte er beschlossen, den Beginn des neuen Jahrtausends zum Anlass zu nehmen, sein Leben grundlegend zu verändern. An einem Krankenhaus in Washington hatte er sich auf Brandverletzungen spezialisiert und sich in diesem Fachgebiet einen Namen gemacht. Inzwischen war er sechsunddreißig. Seine Großeltern planten, nach Florida in eine Altenwohnanlage zu ziehen, und obwohl er sie noch genauso liebte wie früher, fühlte er sich nun nicht mehr verpflichtet, in ihrer Nähe wohnen zu bleiben. Das Verhältnis zu seinem Vater hatte sich nicht verbessert. Etwa zur Zeit des Umzugs seiner Großeltern nach Florida heiratete er wieder einmal. Aber Dan ließ sich auf der vierten Hochzeit seines Vaters ebenso wenig blicken wie auf der dritten.
Am ersten März sollte er die neue Stelle in Manhattan antreten. Er überwies seine Privatpatienten an Berufskollegen und nahm sich ein paar Tage Zeit, um in New York eine Wohnung zu suchen. Im Februar kaufte er sich eine Eigentumswohnung in SoHo, am unteren Ende von Manhattan, und transportierte die wenigen Dinge, die er behalten wollte, aus seinem spärlich möblierten Apartment in Washington dorthin.
Zum Glück überließen ihm seine Großeltern ein paar schöne Stücke, weshalb er sein neues Zuhause recht stilvoll einrichten konnte.
Da Dan ein geselliger Mensch war, hatte er Spaß an den Abschiedsfeiern, die seine Freunde für ihn veranstalteten. Zu seinem Freundeskreis gehörten auch einige Frauen, mit denen er im Laufe der Jahre ausgegangen war. Einer seiner Freunde schenkte ihm eine elegante neue Brieftasche, und als Dan Führerschein, Kreditkarten und Geld hineinräumte, steckte er nach kurzem Zögern das alte Foto seiner Mutter in das Familienalbum, das seine Großeltern nach Florida mitnehmen wollten. Er wusste,
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