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Vergiss die Toten nicht

Vergiss die Toten nicht

Titel: Vergiss die Toten nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mary Higgins Clark
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dass es Zeit war, die damit verbundenen Erinnerungen hinter sich zu lassen. Doch eine Stunde später überlegte er es sich anders und holte das Foto wieder heraus.
    Er fühlte sich wehmütig und erleichtert zugleich, als er seine Großeltern zum Zug brachte. Dann stieg er in seinen Jeep und fuhr nach Norden. Vom Bahnhof im District of Columbia bis zu seiner neuen Adresse war es eine Fahrt von vier Stunden. In Manhattan angekommen, stellte er seine Koffer in die Wohnung, räumte alle anderen Sachen aus dem Auto und stellte den Wagen dann in einem nahe gelegenen Parkhaus ab. Da er darauf brannte, das Viertel zu erkunden, machte er sich auf die Suche nach einem Restaurant, um dort zu Abend zu essen. Dass es hier so viele Restaurants gab, gefiel ihm an SoHo am besten. Er entdeckte eines, das er auf seinen bisherigen Ausflügen noch nicht ausprobiert hatte, kaufte sich eine Zeitung und setzte sich an einen Tisch am Fenster.
    Nachdem er einen Drink bestellt hatte, studierte er die Titelseite. Bald jedoch hob er den Blick, um die Leute auf der Straße zu beobachten. Er musste sich zwingen, sich wieder auf den Artikel zu konzentrieren. Denn einer seiner guten Vorsätze fürs neue Jahrtausend war gewesen, die sinnlose Suche endlich aufzugeben. Da seine Mutter überall und nirgendwo sein konnte, bestand kaum eine Chance, sie aufzuspüren.
    Doch noch während er sich das vor Augen hielt, flüsterte ihm eine innere Stimme beharrlich ein, dass er genau aus diesem Grund nach New York gezogen war. Denn hier war sie zuletzt gesehen worden.
    Als er einige Stunden später im Bett lag und den Motorengeräuschen lauschte, die gedämpft von der Straße heraufdrangen, beschloss er, noch einen letzten Versuch zu wagen. Wenn er bis zum ersten Juni keinen Erfolg hatte, wollte er endgültig das Handtuch werfen.
    Dan war voll und ganz damit beschäftigt, sich im Krankenhaus einzuarbeiten und sich an die neue Stadt zu gewöhnen. Am 2.
    Juni musste er eine Notoperation durchführen und deshalb mit seinem – wie er sich schwor – letzten Versuch, seine Mutter wieder zu finden, bis zum nächsten Tag warten. Diesmal war sein Ziel die südliche Bronx, ein heruntergekommener Stadtteil von New York, auch wenn sich die Zustände dort in den letzten zwanzig Jahren ein wenig gebessert hatten. Obwohl er sich eigentlich keine großen Hoffnungen machte, stellte er die üblichen Fragen und zeigte das Foto herum, das er immer noch bei sich trug.
    Und dann geschah es. Eine schäbig gekleidete Frau, die er auf etwa fünfzig schätzte, begann plötzlich zu lächeln. Ihre stumpfen Augen leuchteten auf, und ihr zerfurchtes Gesicht erhellte sich.
    »Ich glaube, Sie suchen meine Freundin Quinny«, sagte sie.

9
D
    ie zweiundfünfzigjährige Winifred Johnson wurde jedes Mal von Ehrfurcht ergriffen, wenn sie die Vorhalle des Hauses Park Avenue 925 betrat, wo ihr Arbeitgeber residierte. Drei Jahre lang arbeitete sie nun schon für Adam Cauliff, zuerst bei Walters und Arsdale und seit dem letzten Herbst in Adam Cauliffs eigenem Architekturbüro. Er hatte sich schon immer voll und ganz auf sie verlassen.
    Doch wenn sie ihn privat aufsuchen musste, befürchtete sie jedes Mal, der Pförtner könnte sie eines Tages anweisen, den Lieferanteneingang um die Ecke zu benutzen.
    Sie wusste, dass diese Haltung durch ihre Eltern beeinflusst war, die ihr Leben lang gegen eingebildete Kränkungen angekämpft hatten. Seit Winifred denken konnte, hatten sie ihr über Leute, die sie angeblich herablassend behandelten, die Ohren vollgejammert. »Sie missbrauchen ihr bisschen Macht dafür, unseresgleichen zu schikanieren, weil wir uns nicht wehren können. Damit musst du immer rechnen, Winifred. So ist die Welt nun einmal.« Ihr Vater hatte bis zu seinem Tod über die Ungerechtigkeiten geklagt, die ihm sein Arbeitgeber in vierzig Jahren zugefügt hatte. Ihre Mutter lebte inzwischen in einem Pflegeheim und beschwerte sich auch weiterhin unablässig darüber, wie sehr man sie dort beleidige und vernachlässige.
    Winifred dachte gerade an ihre Mutter, als der Pförtner ihr lächelnd die Tür aufhielt. Vor ein paar Jahren hatte sie es ihr ermöglichen können, in ein teures, neues Pflegeheim umzuziehen, doch auch das hatte dem ständigen Genörgel keinen Einhalt geboten. Offenbar war es ihrer Mutter nicht möglich, zufrieden, geschweige denn glücklich zu sein. Und Winifred, die diesen Wesenszug auch an sich selbst bemerkte, hatte sich dem hilflos ausgeliefert gefühlt. Aber ich habe mich

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