Vergiss die Toten nicht
in dem stand, dass er wieder einmal im Unterricht geschwatzt hatte.
»In der nächsten Woche gibt es striktes Fernsehverbot«, verkündete Lisa.
Wie immer erschien ihr das Haus ohne Jimmy leer. Auch wenn er sich in letzter Zeit verändert hatte und zwischen Teilnahmslosigkeit und Unruhe schwankte, war er doch der schützende Familienvater, auf den sie sich verlassen konnten.
Wenn er abends nicht zu Hause war, was selten vorkam, fühlte Lisa sich seltsam und unwohl.
Vielleicht habe ich ihm zu sehr zugesetzt, dachte sie. Ständig frage ich ihn, wie er sich fühlt, bitte ihn, mir zu erzählen, was ihn bedrückt, oder flehe ihn an, zum Arzt zu gehen. Das muss aufhören, nahm sie sich vor und sah noch einmal nach dem Essen, das sie in den Ofen gestellt hatte, damit es warm blieb.
Als er heute Morgen aufgebrochen ist, sah er so bedrückt aus, überlegte sie. Habe ich ihn wirklich an der Tür »Es tut mir leid«
sagen hören?
Was tat ihm denn leid?, fragte sie sich.
Um halb neun begann sie, sich Sorgen zu machen. Wo war Jimmy? Er konnte doch nicht mehr auf der Jacht sein. Das Wetter hatte gewechselt. Der Himmel hatte sich bewölkt, und ein Sturm war aufgezogen. Bei diesen Witterungsbedingungen draußen auf dem Meer herumzufahren, war gefährlich.
Bestimmt ist er schon auf dem Heimweg, sagte sie sich. Am Freitagabend war der Verkehr immer eine Katastrophe.
Eine Stunde später scheuchte Lisa die beiden Kleineren nach oben, damit sie duschten und ihre Schlafanzüge anzogen. Kyle, der seine Hausaufgaben inzwischen erledigt hatte, setzte sich ins Wohnzimmer vor den Fernseher.
Jimmy, wo bist du? Lisas Angst wuchs, als sich die Uhrzeiger der Zehn näherten. Da stimmt doch etwas nicht. Vielleicht hast du wirklich deinen Job verloren. Doch das wäre mir egal. Du wirst schon wieder etwas finden. Möglicherweise wäre es sogar besser, wenn du dem Baugeschäft den Rücken kehrst. Schließlich sagst du ja immer, dass in dieser Branche einiges faul ist.
Um halb elf läutete es an der Tür. In heller Angst lief Lisa hin und machte auf. Zwei Männer standen vor ihr und hielten ihre Ausweise hoch, damit sie sie im Schein der Außenbeleuchtung betrachten konnte – und Polizeimarken.
»Mrs. Ryan, dürfen wir reinkommen?«
Ohne nachzudenken, stellte Lisa die Frage, die ihr auf den Lippen lag. Ihr Tonfall war schleppend vor Trauer. »Jimmy hat Selbstmord begangen, stimmt’s?«, schluchzte sie.
15
N
ach ihrem Besuch bei Nell nahmen sich Cornelius und Gertrude MacDermott
gemeinsam
ein
Taxi.
Schweigend
und
gedankenverloren saßen sie da, bis der Wagen vor dem Haus an der Ecke 81. Straße und Lexington Avenue hielt, wo Gerti wohnte.
Gerti nahm den fast verächtlichen Blick des Fahrers kaum wahr. »Oh, sind wir schon da?«, sagte sie und drehte sich mühsam um, während der Pförtner ihr bereits die Wagentür aufhielt. Ein peitschender Wind trieb dicke Regentropfen vor sich her. Sie sah, dass der Pförtner trotz seines Regenschirms klatschnass wurde.
»Los, Gerti, beweg dich«, schimpfte ihr Bruder.
Sie wandte sich zu ihm um und achtete nicht auf seinen barschen Ton. Im Augenblick konnte sie nur an die schreckliche Tragödie denken. »Cornelius, Nel hat Adam über alles geliebt.
Ich hatte heute Abend den Eindruck, dass es zu viel für sie ist.
Sie wird unsere Hilfe brauchen.«
»Nell ist stark. Sie wird es schaffen.«
»Glaubst du das im Ernst?«
»Gerti, der arme Mann wird noch ertrinken, wenn du ihn länger warten lässt. Keine Sorge, Nel wird es überstehen. Ich rufe dich morgen an.«
Beim Aussteigen musste Gerti plötzlich an ein Wort denken, das Mac benutzt hatte: ertrinken. War Adam ertrunken oder von der Explosion in Stücke gerissen worden? Ihr wurde klar, dass ihrem Bruder dasselbe eingefallen war, denn er nahm ihre Hand, beugte sich vor und küsste sie auf die Wange.
Wie immer schoss ihr ein Schmerz durch die Knie, als sie aus dem Taxi kletterte. Mein Körper macht nicht mehr lange mit, überlegte sie. Adam war so stark und so gesund. Es ist eine Katastrophe.
Plötzlich fühlte sie sich sehr müde und war froh, dass der Pförtner ihren Arm stützte, als sie das kurze Stück vom Straßenrand bis zur Haustür zurücklegte. Kurz darauf war sie wohlbehalten in ihrer Wohnung angelangt, ließ sich in einen Sessel sinken, lehnte sich zurück und schloss die Augen. Als sie an Adam dachte, kamen ihr die Tränen.
Sein Lächeln hätte wohl auch das verstockteste Herz erweicht, dachte Gerti. Sie erinnerte sich an
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