Vergiss mein nicht
» Mein armes kleines Mädchen! Mein Baby! Mein Baby!«
» Paul«, sagte Jeffrey mit von der eigenen Trauer schwerer Stimme. Er streckte seine Hand aus, um den Arm des Mannes zu berühren, aber Paul Jennings nahm Jeffreys Hand. Jeffrey hatte noch nie zuvor die Hand eines Mannes gehalten, und es war ein seltsames Gefühl. Doch wenn es Paul Jennings half, über seinen Kummer hinwegzukommen, war es das Mindeste, was er dazu beitragen konnte.
Paul drückte Jeffreys Hand fester. » Sie war so ein süßes Mädchen.«
» Ich weiß«, sagte Jeffrey und erwiderte den Druck. » Meine Frau Sara hat sie behandelt.« Plötzlich wurde Jeffrey gewahr, dass er sich versprochen hatte. » Meine Exfrau. Sie ist Kinderärztin. Sara.«
Hoffnungsvoll sah Paul auf. » Sie hat Wendy behandelt?«
» Ja«, bestätigte Jeffrey. » Sara hat gesagt, sie sei ein sehr gescheites Mädchen gewesen. Sehr intelligent und sehr süß dazu. Sie hatte ein mitfühlendes Herz.«
» War sie gesund?«
Diesmal log Jeffrey ganz bewusst. Es gab keinen Grund, diesem Vater zu eröffnen, was seine Tochter hatte durchmachen müssen. » Ja«, sagte er daher, » sie war bei bester Gesundheit.«
Paul ließ Jeffreys Hand los und nahm das Foto seiner Tochter vom Tisch. » Sie war immer so süß, auch schon als Baby. Bei manchen Kindern erkennt man das sofort. Was für ein gutes Herz sie hatte.«
Jeffrey zog sein Taschentuch hervor und putzte sich die Nase. Zu spät merkte er, dass er es Paul hätte anbieten sollen.
» Es tut mir leid«, sagte er.
» Ich mache Ihnen keinen Vorwurf«, versicherte Paul. » Ihr gebe ich die Schuld. Wanda gebe ich die Schuld. Sie hat mir mein Kind genommen. Sie hat dem Mädchen diese grässlichen Dinge angetan.« Er räusperte sich und wischte sich mit der Hand über die Nase. » Sie hat all das in Gang gesetzt, weil sie eben so ein Mensch ist.« Er sah Jeffrey ins Gesicht. » Ihnen gebe ich keine Schuld«, wiederholte er vehement. » Belasten Sie Ihr Leben nicht mit diesem Schuldgefühl, Mr Tolliver. Ich habe mich mein ganzes Leben schuldig gefühlt: Was wäre gewesen, wenn ich sie nie geheiratet hätte? Was, wenn ich auf die Gerüchte gehört hätte? Was, wenn ich der Polizei erlaubt hätte, mein Mädchen daraufhin untersuchen zu lassen, ob ihre Mutter…?« Wieder bedeckte er das Gesicht mit den Händen, und wieder schluchzte er, dass er am ganzen Körper bebte.
Auch Jeffrey rang um Fassung. Er musste an das Foto von Lacey Patterson auf dem Blatt mit der Suchmeldung denken, das in seiner Schreibtischschublade lag. Er musste daran denken, was Jenny durchgemacht hatte und was Mark noch vor sich hatte, wenn er es schaffen sollte, aus dem Koma zu erwachen. Und er musste auch an Sara denken und die Vorwürfe, die sie sich machte, weil diese Kinder sich in ihrer Obhut befunden hatten. Verdammt, sie hatten sich auch in seiner Obhut befunden. Und vielleicht gerade weil sie keine eigenen Kinder hatten, fühlten sich Sara und er für die der ganzen Stadt verantwortlich. Was hatte er da geschehen lassen? Wie viele Kinder hatten leiden müssen, weil er blind für das Böse gewesen war?
» Sie haben Ihre Pflicht getan«, sagte Paul, als hätte er Jeffreys Gedanken lesen können. » Sie wollten den Jungen schützen.«
Jeffrey hatte aber dem Mädchen nicht geholfen, das sie als Jenny Weaver kannten. Er hatte weder Mark noch Lacey Patterson gerettet. Er hatte niemanden geschützt außer Dottie Weaver, die hier auf dem Revier gesessen und ihm ihre Lügen aufgetischt hatte.
Paul sagte: » Vieles ist dann herausgekommen, nachdem Wanda die Stadt verlassen hatte.« Er sah auf seine Hände. » Sie war an manchen Wochenenden als Babysitter eingesprungen. Auch diese Kinder wurden missbraucht.«
Jeffrey richtete sich auf. Er wollte nicht, dass sein eigener Schmerz den von Paul Jennings überschattete. Er fragte: » Wurde je ein Haftbefehl erlassen?«
» Nein«, sagte Paul mit einem sarkastischen Lächeln. » Ein paar Tage später wurde ein Haftbefehl für die andere Frau ausgestellt, aber auch die hatte bereits die Stadt verlassen.«
Jeffrey sträubten sich die Nackenhaare bei dem Gedanken an Lacey Patterson. » Wie war denn deren Name?«
» Markson«, sagte Paul und wischte sich wieder mit dem Handrücken die Nase ab. » Grace Markson.«
Sechzehn
L ena saß an Grace Pattersons Bett und lauschte den monotonen Pieptönen des Herzmonitors neben sich. Am Fenster zum Parkplatz des Krankenhauses war die Jalousie heruntergelassen. Um diese Zeit war
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