Vergiss mein nicht
sah zum Kamin. Lena dachte, sie würde das Gemälde betrachten, aber dann entdeckte sie die Familienbilder auf dem Kaminsims, Schnappschüsse, wie sie bei jeder Familie stehen: Kinder und Eltern am Strand, in einem Vergnügungspark, beim Zelten im Wald. Die Grace Patterson auf diesen Fotos war etwas fülliger und sah nicht so eingefallen aus. Die Kinder waren noch jünger. Der Junge, bei dem es sich um Mark handeln musste, war ungefähr zehn oder elf Jahre alt, seine Schwester etwa acht. Allem Anschein nach eine glückliche Familie. Sogar Teddy Patterson schenkte auf den wenigen Fotos, die ihn zeigten, der Kamera ein Lächeln.
» Und sie gingen zu den Baptisten?«, fragte Jeffrey.
» Crescent Baptist«, antwortete Grace, und zum ersten Mal klang ihre Stimme lebhaft. » Mark schien dort eine Zeit lang sehr glücklich zu sein. Als würde ein Teil seiner nervösen Energie endlich in die richtigen Bahnen gelenkt. Sogar seine schulischen Leistungen verbesserten sich.«
» Und dann?«
» Und dann…« Sie schüttelte langsam den Kopf und schien in sich zusammenzusacken. » Ich weiß nicht. Um die Weihnachtszeit wurde es dann wieder schlimm mit ihm.«
» Weihnachten im vergangenen Jahr?«, fragte Jeffrey.
» Ja«, sagte sie. » Ich weiß wirklich nicht, was passiert ist, aber plötzlich war die Wut wieder da. Er schien so…« Wieder brach sie ab. » Wir haben versucht, ihn zur Beratung zu schicken, aber er ist einfach nicht erschienen: Wir konnten ihn nicht zwingen, obwohl«– sie sah den Flur hinunter, als wolle sie nachprüfen, ob sie auch allein waren– » sein Vater es versucht hat. Teddy findet, dass die Menschen so sein sollten wie er. Das heißt die Jungen. Oder Männer, sollte ich wohl lieber sagen. Er hat recht rigide Ansichten darüber, was für einen Mann akzeptabel ist.«
» Zu Weihnachten gab es eine Kirchenfreizeit. War Mark mit dabei?«
» Nein.« Sie schüttelte den Kopf. » Das war ungefähr die Zeit, als er immer aufsässiger wurde. Er bekam Stubenarrest, und sein Vater gestattete nicht, dass er mitfuhr.«
» Aber Lacey durfte mit.«
» Ja.« Sie lächelte. » Sie war noch nie Ski fahren. Es hat ihr sehr gefallen.«
Sie verstummten, und Grace Patterson zupfte sich nicht vorhandene Fussel vom Kleid. Offenbar wollte sie noch etwas sagen.
» Ich bin sehr krank«, sagte sie mit leiser Stimme. » Meine Ärzte machen mir kaum noch Hoffnung.«
» Das tut mir sehr leid«, sagte Jeffrey, und das schien er ehrlich zu meinen.
» Brustkrebs«, sagte Grace und legte wieder die Hand auf die Brust. Lena fiel erst jetzt auf, dass der Oberkörper der Frau unter ihrer Bluse völlig flach war. » Lacey wird damit fertigwerden. Sie landet immer auf den Füßen. Ich mag mir aber gar nicht vorstellen, was aus Mark werden soll, wenn ich mal nicht mehr bin. Trotz all seines Gehabes ist er doch ein lieber Junge.«
» Ich glaube bestimmt, dass er’s schafft«, versicherte ihr Jeffrey, aber in Lenas Ohren klang er nicht sehr überzeugend. Es musste schon ein Wunder geschehen, damit Jungs wie Mark sich änderten.
Grace ließ sich erst recht nicht täuschen. Sie lachte leise und wissend. » Oh, ich bin nicht dumm, Chief Tolliver, aber ich danke Ihnen trotzdem.«
Teddy Pattersons Schritte klangen schwer auf dem Flur, und der ganze Trailer schwankte leicht unter seinem Gewicht, als er den Raum betrat. Sein Sohn folgte ihm, das totale Gegenstück zu seinem Vater. Patterson packte den Jungen am Arm und zerrte ihn in Richtung Wohnzimmer.
Als Erstes fiel Lena an Mark Patterson auf, dass er unglaublich gut aussah. Am Abend zuvor hatte sie ihm nicht viel Aufmerksamkeit geschenkt, weil so viel auf einmal geschehen war. Hier im Trailer nahm sie sich Zeit, ihn genauer zu betrachten. Mark hatte das dunkelblonde Haar seiner Mutter, seines war aber voller und ein wenig kürzer. Seine Wimpern waren die längsten, die sie je bei einem Mann gesehen hatte, seine Augen stechend blau. Wie die meisten sechzehnjährigen Jungen hatte er einen Bartansatz am Kinn und die ersten Konturen eines Schnurrbarts über seinen vollen Lippen.
Lena fiel auf, wie er sein Haar hinter die Ohren strich. Sie musste sich eingestehen, dass diese Geste etwas Erotisches hatte. Und auch die Art, wie er ging und die Schultern hielt, gab ihm etwas Sinnliches. Seine verwaschenen Jeans hingen ziemlich tief auf den schmalen Hüften, und das enge weiße T-Shirt, das er trug, war ein kleines Stück nach oben gerutscht, sodass man die Konturen seiner Bauchmuskeln
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