Vergiss mein nicht (German Edition)
etwas anders vorgestellt und als ›Köder‹ sein Lieblingsessen vorbereitet: Lasagne alla Mamma. Obwohl die Freundin ungeduldig auf ihn wartet, kann der Sohn nicht Nein sagen und bleibt zum Essen. Er erfährt von seiner Mutter, dass sein Vater das Wochenende über bei einem Tanzworkshop ist und sie sich um den Kater sorge, der seit einiger Zeit an einer Fressstörung leide und kein Essen annehme. Der Sohn ist kurz angebunden und genervt von den vielen Fragen seiner Mutter. Die Situation spitzt sich zu, als ein Anruf der Freundin sie beim Essen unterbricht und er abrupt aufbrechen will:
M U T T E R : Ich finde es unverschämt von ihr, dir nicht mal Zeit zu geben, ein paar Worte mit deiner Mutter zu wechseln! S O H N: Oh Mann, was bitte ist dein Problem, verdammte Scheiße?
M U T T E R : Merkst du nicht, dass sie deine Gutmütigkeit nur ausnutzt?
S O H N: Wenn du nicht willst, dass wir dein Auto nehmen, dann sag’s einfach! Sag einfach ja oder nein oder lass es von mir aus, oder – ach, vergiss es!
(Er geht verzweifelt Richtung Tür. Dann wendet er sich um.) Sie kann dich übrigens auch nicht leiden!
(In diesem Moment kommt der K A T E R in die Küche gelaufen und steuert zielstrebig seinen Fressnapf an. Er fängt gierig an zu fressen. M U T T E R und S O H N beobachten ihn. M U T T E R kniet sich hin und streichelt ihn.)
Ich fand, dass sich der Film trotz einiger Überspitzungen angemessen mit unserer Mutter-Sohn-Beziehung auseinandersetzte, aber meine Mutter fühlte sich offen herausgefordert. Sie stand nach der Premiere entrüstet im Publikum auf und rief: »Ab jetzt gibt’s keine Lasagne mehr!«
Kapitel 4
Delirium
(von lat. de-lirare: ›aus der Furche geraten‹;
›Irresein, Verwirrtheitszustand‹)
Der Lasagne-Entzug meiner Mutter traf mich hart; ich hatte nicht damit gerechnet, dass sie meine filmische Verarbeitung unserer Beziehung derart in den falschen Hals bekommen könnte. Glücklicherweise waren von ihrem Boykott nicht die Nachspeisen betroffen, ich konnte also weiterhin mit meinem geliebten Milchreisauflauf rechnen, und alsbald verlegte sie sich von Lasagne auf eine leckere selbstgemachte Pizza, die wir fortan mit Vergnügen gemeinsam belegten.
Als Gretel sich ein paar Jahre später an Ostern auf einmal nicht mehr an ihr klassisches Hefezopf-Rezept erinnerte, beunruhigte das niemanden. Zwar hatte sie normalerweise den Zopf immer gemeinsam mit Kindern und Enkelkindern gebacken und das Rezept stets auswendig gewusst, aber sie konnte so viele Kochanleitungen auswendig, dass es ganz natürlich war, auch einmal etwas zu vergessen. Wenn wir uns damals Sorgen um Gretel machten, ging es um ihre Hüfte und Knie, nicht um ihre geistigen Fähigkeiten.
Ein Jahr zuvor hatte sie einen Fahrradunfall gehabt und litt seitdem unter starken Schmerzen beim Laufen. Während ihrer morgendlichen kleinen Radtour durch den Stadtwald war sie in einen Graben am Wegesrand gestürzt und hatte großes Glück gehabt, dass ein Jogger, der gerade des Wegeskam, einen Krankenwagen verständigte. Nach ein paar Wochen konnte sie wieder auf Krücken verzichten, aber sie humpelte fortan und nahm regelmäßig Schmerztabletten ein.
Ein Jahr nach dem Unfall, im Sommer nachdem Gretel ihr Hefezopf-Rezept entfallen war, wunderte ich mich zum ersten Mal ernsthaft über Gretels Gedächtnis. Es war kurz vor ihrem 68. Geburtstag, als sie während eines Telefonates Felix, meinen besten Freund aus Schulzeiten, mit dem Mann meiner Schwester verwechselte – die beiden haben zwar denselben Vornamen, aber aus dem Kontext heraus war völlig klar, dass ich meinen alten Spielkameraden meinte. Es ging in dem Gespräch um eine Bluesband, in der ich früher gemeinsam mit ihm gespielt hatte, und damit konnte nicht mein Schwager gemeint sein. Besonders befremdlich war die Verwechslung, da dieser Freund immer ein spezieller Liebling meiner Mutter gewesen war. Als ich meiner Schwester davon erzählte, berichtete sie, dass auch sie neulich ganz erstaunt gewesen wäre, da Gretel sich nicht erinnern konnte, dass meine Schwester und ich viele Jahre lang bei den Pfadfindern gewesen waren.
Zu ihrem Geburtstag wünschte sich Gretel von ihrer Schwiegermutter Tebonin , ein Ginkgo-biloba-Präparat, das die geistige Leistung fördern soll. Meine Oma mit ihren 92 Jahren war geistig völlig klar und wunderte sich über diesen Wunsch. Sie selber dachte nicht im Traum daran, so etwas zu nehmen. Anscheinend hatte Gretel nach dem
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