Vergiss mein nicht (German Edition)
Geburtsnamen ›Margarete Schaumann‹. Malte war damals vom Anblick meiner Mutter derart fasziniert, dass er ihr aus einer Straßenbahn heraus folgte. Vor einem kleinen Tabakladen, in dem sie sich Zigaretten kaufte, traute sich mein Vater, sie anzusprechen und zum Essen einzuladen. Malte konnte sich nach dieser Begegnung kaum noch auf sein Studium konzentrieren, er war wie süchtig nach Gretel und ging ständig zu ihr anstatt zu lernen. Gretel hatte großen Spaß daran, seine mathematischen Übungsaufgaben zu lösen und liebte besonders Dreieckskonstruktionen. Ihre anderen Verehrer fanden allerdings weniger Gefallen an ihrer ›Geometrie der Liebe‹ und strichen einer nach dem anderen die Segel. Malte konnte sich gar nicht erklären, warum sich die viel umschwärmte und deutlich reifere Gretel gerade für ihn entschied. In ihrem illustren Freundeskreis wurde Malte das ›Jüngelchen‹ genannt. Auch beruflich behielt Gretel die Nase vorn. Als Malte sein Diplom machte, hatte sie ihr Staatsexamen mit summa cum laude schon zwei Jahre in der Tasche und arbeitete beim Norddeutschen Rundfunk als Autorin. Sie machte zunächst Radiobeiträge und bekam dann im gerade neu gegründeten dritten Fernsehprogramm eine eigene Sendung, die sie selbst moderierte und auch redaktionell betreute: ›Deutsch für Deutsche mit Margarete Schaumann‹ – quasi die Geburtsstunde des Schulfernsehens –, wo sich Gretels Interesse für Linguistik niederschlug. Die Sendung lief wöchentlich zur besten Sendezeit vor der Tagesschau, und eigentlich hatte sie wenig Ambitionen, Malte in die bayerische Provinz zu folgen, als dieser eine Assistentenstelle in Erlangen bekam. Sie verdiente gutes Geld beim Fernsehenund schenkte Malte ein Auto, damit er sie in Hamburg besuchen kommen konnte. Doch als er um ihre Hand anhielt und sie schwanger wurde, ließ sie sich erweichen, entschied sich gegen ihre Karriere und folgte dem Ruf der Familie. 1966 heirateten sie in Hamburg und bald darauf kam in Erlangen ihr erstes Kind auf die Welt.
30 Jahre später feierten meine Eltern Hochzeitstag mit ihren drei mittlerweile erwachsenen Kindern. Die Feier des Jubiläums war nicht ihre eigene Initiative gewesen, denn die beiden waren keine Romantiker. Ich erinnere mich nicht, sie einmal Händchen haltend oder miteinander kuschelnd erlebt zu haben. Auch Kosenamen wie ›Schatz‹ oder ›Liebling‹ wurden bei uns nicht benutzt. Alle redeten sich bei uns mit Vornamen an. Meinen Vater hatte ich nie mit ›Papa‹, sondern schon immer mit ›Malte‹ angesprochen, Gretel allerdings war für mich ›Mami‹ – ungefähr, bis ich volljährig war.
Die Idee, den Hochzeitstag zu feiern, kam von meinen Schwestern und sollte meine Eltern, im Angesicht der Tatsache, dass ihre Kinder nun erwachsen und wohl bald aus dem Haus waren, an den Bund ihrer Liebe erinnern. Wir hatten unter Beteiligung der Verwandten ein Geschenk für das Paar organisiert: Eine Reise nach Venedig zu zweit.
Doch zehn Jahre später, als mein Vater pensioniert wurde, hatten die beiden ihre Reise immer noch nicht angetreten. Wie befürchtet, hatten sie, nachdem wir Kinder aus dem Haus waren, immer weniger gemeinsam unternommen. Ohne Nachwuchs verbrachten sie ihre Urlaube getrennt. Malte wollte grundsätzlich lieber arbeiten als in Ferien gehen, und wenn schon, dann lieber etwas Sportliches und keine organisierten ›Bildungsreisen‹, wie Gretel es sich vorstellte. Malte machte noch ein paar Mal mit meiner Schwester und mir einen Felskletter-Urlaub in den Alpen, was für Gretel undenkbarwar. Sie verreiste lieber mit einer Freundin oder einer Schwester, um andere Kulturen kennenzulernen. Da sich Gretel und Malte aber nie beklagten, sah ich kein Problem in ihren getrennten Wegen. Nur als vor ein paar Jahren erst meine Mutter mit ihrer Schwester nach Ischia in Italien fuhr und anschließend nicht mal einen Monat später mein Vater mit Freunden an genau denselben Ort reiste, war ich doch etwas befremdet gewesen. Hieß das: ›Hauptsache nicht zusammen‹? Ich hoffte, dass sich die Dinge nun, da Malte im Ruhestand war, ändern würden.
»Was hast du jetzt eigentlich vor als Pensionär?«, fragte ich meinen Vater bald nach seiner Verabschiedung. Er räusperte sich und holte aus: »Mein Lebenswerk ist ja noch gar nicht getan. Ich habe an der Uni neben der Lehre kaum Zeit gefunden, das zu erforschen, was ich eigentlich wollte, und ich hatte auch nicht die Freiheit der Themenwahl, die ich jetzt habe. Ich möchte
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