Vergiss mein nicht (German Edition)
noch ein schönes Stück Forschung machen. Wir Mathematiker sagen: ›Einen Satz beweisen.‹ Als Mathematiker hast du die Chance, dass du einen Satz beweist, der nachher im Lehrbuch steht. So kann man ein bisschen über seinen Tod hinaus weiterleben.«
Malte hatte auch Ambitionen, wieder ins Ausland zu gehen, um dort an der Uni zu lehren, zum Beispiel in Kolumbien, wohin er gute Kontakte hatte. Gretel war nicht Teil dieses Plans, denn ihr war das zu unsicher. Sie war gut über die politische Lage in Lateinamerika informiert und kannte Kolumbien von einer Reise mit einer Freundin. Nirgends auf der Welt wurden damals mehr Entführungen registriert, besonders gerne wurden Ausländer verschleppt. »Da komm’ ich nicht mit!«, hatte sie zu ihm gesagt. Während Gretel täglich zum Einkaufen humpelte und das Hüten der Enkelkinder zu ihrem größten Vergnügen erklärte, wünschte sich Malte Abenteuer undVeränderung in seinem Leben und schlug mir ernsthaft vor, wir könnten doch zusammen den Mont Blanc besteigen.
Doch es zeichneten sich schon bald ganz andere Herausforderungen für meinen Vater ab. Nach seiner Verabschiedung an der Uni erklärte meine Mutter an Weihnachten, sie habe keine Lust mehr, für uns alle zu kochen. Ich verstand das als Reaktion auf die Pensionierung meines Vaters. Der hatte sich Zeit seines Arbeitslebens nie weiter um den Haushalt gekümmert. Gretel wurde bald 70, und dass es ihr an Weihnachten zu viel wurde, konnte ich gut verstehen. Schließlich war die Familie mittlerweile noch um drei Enkelkinder angewachsen, außerdem waren Schwiegermutter und Schwiegersohn zu Besuch. Doch auch als Pensionär fühlte sich mein Vater zunächst nicht für Heim und Herd berufen. So waren jetzt also wir Kinder mal an der Reihe und wechselten uns über die Feiertage mit Kochen ab.
Während meines weihnachtlichen Kochdienstes schaute ich mir zum ersten Mal die ›Zettelwand‹ meiner Mutter genauer an. Sie hatte zwei Küchenschranktüren mit allerhand Merkzetteln übersät, die sich auch schon auf eine dritte Schranktür ausbreiteten. Die Zettel hatten sich ganz allmählich über die Jahre vermehrt und waren für meine Mutter so typisch wie die Halbbrille auf ihrer Nase. Neben diversen Adressen mit Telefonnummern hingen dort Kleinanzeigen, ausgeschnittene Zeitungsartikel, Rezepte, Termine und Zitate aus dem Radio. Ein paar Zettel sprangen mir ins Auge:
– Des Papsts ›letzte Worte‹: »Ich bin froh, seid ihr es auch!«
– G. W. Bush: »This nation is at war with terrorists. They are Muslim fascists who want to destroy those who love freedom.«
– Mami: »Ich hab keine Lust mehr zu leben und Geld zu kosten.«
– Dr. Kawashima, »Train Your Brain«, Penguin
Ich betrachtete die Zettel neugierig und mit einem Schmunzeln, aber für meine Schwestern waren sie Grund zur Besorgnis. Gretels ›Zettelwirtschaft‹ nehme langsam überhand. Nicht nur die Schranktüren in der Küche und das Telefonregal waren fast vollständig mit Zetteln ausgekleidet, auch auf ihrem Schreibtisch wimmelte es von Notizen und Erinnerungen. Uns waren die ›Zettele‹ von Gretels Mutter nur in allzu guter Erinnerung, denn ihr ›Alzheimer‹ hatte sich damals durch ausufernde Zettelwirtschaft angekündigt. Und ähnlich wie Gretel hatte auch sie die Angewohnheit gehabt, alle möglichen ›Sächelchen‹ zu horten. Kleine Schachteln, praktische Tüten, diverse Arten von Schnürchen, Gummibändchen, Deckeln und Korken. Meine Großmutter hatte irgendwann eine kleine Kiste, die, wie sich eines Tages beim Öffnen herausstellte, nur einen Zettel enthielt, auf dem stand: ›Zur Zeit leer.‹
Bei Gretel hielt sich jedoch alles noch im Rahmen, und es war keine Rede von Demenz oder Alzheimer. Sie war ja auch noch zehn Jahre jünger als ihre Mutter zum Zeitpunkt ihrer Erkrankung gewesen war. Ich verbuchte Gretels geistige Schwächen jedenfalls als ganz normale Altersvergesslichkeit und dachte, wenn man bei diesen harmlosen Anzeichen schon gleich Alzheimer vor Augen habe, müsse auch ich mir ernsthaft Sorgen machen: ›Oma hatte es, bei Muttern bahnt es sich an – wann wird es mich erwischen?‹ Hatte man diesen Gedanken einmal gehabt, war er nicht mehr zu verscheuchen. Ich wurde misstrauisch und fragte mich zum Beispiel, warum ich kein einziges der vielen Gedichte mehr konnte, die ich mal auswendig gelernt hatte. Mein Vater war Ende 60 und konnte noch Griechisch und Latein aus seiner Schulzeit, dazu viele Gedichte und Liedtexte auswendig.
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