Vergiss mein nicht (German Edition)
aber ich hatte seitdem große Sorge, wenn ich hörte, dass Gretel alleine im Auto unterwegs war. Bei meinem nächsten Besuch zu Hause fiel mir ein Schreiben meiner Mutter in die Hände, das sie vorsorglich für ihre Versicherung verfasst hatte:
Bericht über einen Vorfall, der eine Schadensanzeige gegen mich zur Folge haben könnte: Am Freitag, 2.9., in der Zeit zwischen 18.10 und 18.30 Uhr habe ich beim Einparken in der Gervinusstraße in Frankfurt/M. ein unangenehmes Erlebnis gehabt: Ich war auf der linken Seite der Einbahnstraße in eine Lücke, die groß genug für meinen Kangoo war, zu steil reingefahren und wollte einen zweiten Versuch machen, wurde aber am Rausfahren gehindert durch einen Fahrer mit großem offenem Wagen, der neben mir auf halber Höhe hielt und mir Zeichen machte ... Der Fahrer rief mir zu, ich sei auf das Nummernschild aufgefahren. Obwohl ich beim Zurücksetzen keinen Stoß gespürt oder gehört, aber womöglich das Schild leicht touchiert hatte, stieg ich aus, konnte aber keine Verbiegung daran entdecken, auch der selbsternannte Sheriff nicht. Für den Herrn Obergutachter »könnte jedoch eventuell eine indirekte Folgeerscheinung vorliegen«, und er verlangte meinePapiere. Ich war durch den langen Disput sehr verspätet und vergaß in der Eile und dem ohnmächtigen Ärger über den selbstgerechten Richter mir Namen, Autotyp und Wagennummer aufzuschreiben. Meine Vorahnung, dass es noch weiteren Ärger geben wird, hat mich veranlasst, diesen Bericht sofort zu schreiben, obwohl er nur das subjektive Erlebnis wiedergibt.
Bad Homburg, 3. Sept. 05
Zwar bestätigte der Bericht meinen Eindruck, dass Gretel sich im Verkehr nicht mehr so sicher fühlte, aber die Art, wie sie schrieb und die Situation mit ihrem Humor reflektierte, beruhigte mich auch: Hieraus sprach ganz die alte Gretel, und vielleicht machte ich mir doch übertriebene Sorgen!
Im Sommer nach Maltes Verabschiedung entschloss sich Gretel zu einer Hüftoperation. Sie hatte dies lange vor sich hergeschoben, aber die zwei Jahre seit ihrem Unfall hatte sie nur unter regelmäßiger Einnahme von Schmerzmitteln ausgehalten. Nun folgte sie dem dringenden Rat der Ärzte, sich ein künstliches Hüftgelenk einsetzen zu lassen. Die Entscheidung fiel ihr nicht leicht, denn sie war kein Freund von Krankenhäusern und hatte Angst, nach der Operation nicht mehr aufzuwachen.
Gretel hatte in ihrem Leben keine guten Erfahrungen mit Operationen gemacht. Abgesehen von zahlreichen schmerzhaften Zahnbehandlungen hatte sie sich mit Anfang 50 aufgrund verdächtiger Zysten und der Gefahr einer ›Absenkung‹ die Gebärmutter entfernen lassen. Der Eingriff schien gut verlaufen zu sein, doch drei Monate nach der OP wankte sie eines Morgens ins Zimmer meines Vaters und brach bewusstlos zusammen. Im Krankenhaus wurde ein lebensbedrohlicher›Darmdurchbruch‹ festgestellt, der eine Bauchfellentzündung verursacht hatte. Sie musste wieder unters Messer, und es wurde eine gute Handbreit ihres Dickdarms entfernt. Seither hat sie Verdauungsprobleme. Als Ursache für die Verletzung ihres Darms vermutete man einen Kunstfehler bei der vorangegangen Gebärmutter-OP. Kein Wunder also, dass Gretel nicht besonders scharf auf Krankenhäuser war und ärztlichem Rat mit großer Skepsis begegnete. Sie war immer gut damit beraten gewesen, sich im Zweifel nicht vorschnell zu einer Operation hinreißen zu lassen.
Von dieser Devise profitierte ich als Kind sehr, als ich eine Zeit lang ausgeprägte X-Beine hatte. Die Ärzte empfahlen eine Operation, um späteren Problemen beim Laufen vorzubeugen. Es sollte jeweils ein Knochenkeil aus meinen Knien entnommen werden, um die Beine zu begradigen. Meiner Mutter erschien das Vorhaben viel zu brachial und sie verlangte, mit einem Patienten zu sprechen, der eine solche Behandlung bereits hinter sich hatte. Als ihr ein solches Gespräch nicht ermöglicht wurde, blies sie die Operation ab. Sie machte einen Gelenk-Experten in der Schweiz ausfindig, der ihr dann erklärte, dass der vorgeschlagene Eingriff durchaus funktioniere, die Beine anschließend auch gerade sein würden – nur leider dann nicht mehr wachsen würden. Der Arzt empfahl, lieber abzuwarten und gar nichts zu unternehmen, meistens wüchsen sich X-Beine von alleine wieder heraus. Zwei Jahre später brachte ich meiner Mutter stolz eine Ehrenurkunde von den Bundesjugendspielen mit nach Hause: Ich war über 3000 Meter Erster geworden. Bis heute habe ich keine Probleme mit
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