Vergiss mein nicht (German Edition)
Sein Vater war noch mit weit über 80 ein wandelnder Almanach gewesen und wusste zu jeder Lebenslage ein passendes Zitat.
Und ich? Ich konnte nicht mal das eine Suppenrezept, das ich von meiner Mutter gelernt hatte, aus dem Kopf. Eine Salatsoße war so ziemlich das Einzige, was ich ohne nachzuschauen hinbekam. Oft wunderte ich mich, wenn ich mit Freunden zusammensaß, wie detailliert sie aus ihrer Kindheit berichten konnten. Ich wusste nicht einmal mehr genau, was ich am vergangenen Wochenende gemacht oder was ich vor drei Tagen zu Abend gegessen hatte.
Eines Morgens fuhr ich mit meinem neuen Fahrrad zum Supermarkt und lief anschließend mit den Einkaufstüten in den Händen zurück nach Hause. Am nächsten Tag stellte ich bestürzt fest, dass mein Rad nicht mehr im Hof stand, wo ich es doch ganz sicher abgestellt hatte. Jemand musste es geklaut haben! Ich erstattete Anzeige und gab den Verlust bei der Versicherung an. Ich besorgte mir dann wieder genau das gleiche Fahrrad und fuhr einige Zeit später wieder zum Einkaufen. Als ich das Rad anschloss, wunderte ich mich über ein Fahrrad, das genau gleich aussah wie meines und mit einem genau gleichen Schloss angeschlossen war. Der Doppelgänger entpuppte sich als mein vermeintlich geklautes Fahrrad, das ich damals in meiner Zerstreutheit hatte stehen lassen. Waren das nicht deutliche Anzeichen geistigen Verfalls? Misstrauisch lernte ich in der folgenden Zeit Gedichte auswendig und überprüfte, ob ich sie am nächsten Tag noch erinnerte. Das Ergebnis war durchwachsen. Im Internet recherchierte ich, dass für die medizinische Diagnose einer Demenz neben der Gedächtnisschwäche auch deutliche Orientierungsprobleme auftreten und die Alltagsfähigkeiten eingeschränkt sein müssen. Natürlich war meine Sorge, als nicht einmal 30-Jähriger dement zu werden, ziemlich paranoid, aber ich war auf der Hut und beobachtete meine Mutter aufmerksam.Im Frühjahr nach Gretels weihnachtlichem Koch-Stopp kamen meine Eltern zu Besuch nach Berlin. Die beiden wohnten beim Bruder meines Vaters und an einem Abend gingen wir in Kreuzberg bei mir um die Ecke zusammen ins Kino. Nach der Vorstellung wollte mich meine Mutter nach Hause fahren und noch ein Gläschen Wein bei mir trinken. Wir waren den Weg vom Filmtheater zu mir nach Hause in den letzten Jahren schon ein paar Mal gefahren, aber als wir nach einer grünen Ampel links abbiegen wollten, hielt Gretel plötzlich den Wagen mitten auf der Kreuzung an und sagte, sie wisse nicht, wie sie fahren müsse. Mein Vater saß seltsam teilnahmslos auf dem Beifahrersitz und mischte sich nicht ein, als ginge ihn die Sache nichts an. Auf der Gegenfahrbahn warteten Autos auf ihr Ampelzeichen zum Losfahren. »Gretel! Du kannst hier nicht stehen bleiben. Fahr weiter!«, forderte ich sie energisch auf. Das kam gar nicht gut an, in der Aufregung würgte Gretel den Wagen ab und wir blieben auf der Gegenfahrbahn liegen. Jetzt bekam der Gegenverkehr grün, die Autos setzten sich, teils wütend hupend, in Bewegung und wir konnten weder vor noch zurück. Wir wurden in Schlangenlinien umfahren. Als der Strom vorbei war, ließ Gretel den Wagen wieder stotternd an, und wir zuckelten langsam von der Kreuzung. Eigentlich war es nur noch ein Katzensprung zu mir und man konnte nichts falsch machen, aber Gretel war völlig geschafft und benötigte ganz exakte Instruktionen. Ich lotste sie in meine Straße, wo sie rückwärts in eine Lücke zwischen zwei Autos einparken wollte. Aber plötzlich hatte sie größte Angst, von vorbeifahrenden Autos gerammt zu werden. Mein Vater war wieder wie gelähmt und unfähig zu helfen. Auch ich reagierte falsch: Anstatt meinen Vater aufzufordern, mit meiner Mutter das Steuer zu tauschen, stieg ich entnervt aus und verabschiedete mich. Gretel wollte schnell wieder losfahren, um die nervenaufreibende Situation hintersich zu lassen. Einfach geradeaus fahren konnte sie gut, bloß nicht weiter einparken! So ließ ich die beiden ziehen und erst ein paar Minuten später, als ich meine Wohnung aufschloss, erinnerte ich mich, dass wir doch eigentlich noch einen Wein in meiner Küche hatten trinken wollen.
Mein Vater bestritt am nächsten Tag, dass es sich bei der nächtlichen Autofahrt um eine gefährliche Situation gehandelt habe, und spielte das Problem herunter. Ich fragte ihn, warum er sich nicht verantwortungsvoller verhalten habe. »Weißt du, Gretel und ich im Auto, das ist so ein Thema ...«, wich er aus. Er fand das Ganze harmlos,
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