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Vergiss mein nicht (German Edition)

Vergiss mein nicht (German Edition)

Titel: Vergiss mein nicht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Sieveking
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erzählte sie unter Tränen, ein Krankenpfleger hätte sie für die Mutter meines Vaters gehalten. Malte gegenüber ließ sie sich jedoch nichts anmerken, schon bald konnte sie wieder durch den Mund ernährt werden und sie begann sich wieder zu erholen. Nach einem Monat wurde sie aus medizinischer Sicht ›unauffällig‹ nach Hause entlassen. Mein Vater erinnert sich, dass sie damals mit eisernem Willen und strenger Disziplin ihr Gedächtnis wieder auf Vordermann brachte.
    Gretels zeitweise aufgetretene Amnesie hatte ich damals gar nicht bemerkt. Für mich hatte die Geschichte mit der Hirnblutung vor allem deshalb ein Happy End, da meine Mutter mit dem Rauchen aufhörte; ich hatte sie schon seit Jahren darum gebeten. Im Biologieunterricht hatten wir gerade die verheerenden Folgen des Nikotinkonsums durchgenommen und wenn Gretel vor meinen Augen eine Zigarette rauchte, kamen mir Bilder von Raucherbeinen und eisernen Lungen in den Kopf. Mein Bitten und Flehen blieb jahrelang vergeblich, bis sie mit der Hirnblutung ins Krankenhaus kam, wo striktes Rauchverbot herrschte. Zigaretten wurden außerdem als Risikofaktor für Arteriosklerose eingestuft, die vielleichteine Ursache der Blutung gewesen war. Als Gretel schließlich nach einem Monat aus dem Krankenhaus kam, ergriff sie jedenfalls die Gelegenheit beim Schopfe und sagte sich: »Wenn, dann jetzt!«, und hörte auf zu rauchen. Stattdessen gewöhnte sie sich an, ständig etwas zu knabbern, und nahm deutlich zu. Abends vor der Tagesschau saß sie von nun an mit einer Tüte Salzbrezeln. Das Gebäck strich sie dann genüsslich über ein Stück Butter, bevor sie es aß. In dieser Zeit tauchte ein Zettel von ihr in der Küche auf:
    Haltet mich vom Futtern ab!
    Ein paar Wochen nach ihrer Hüft-OP schien es, als hätte Gretel sich von ihrem postoperativen Delirium einigermaßen erholt und die akute Verwirrung überwunden. Ich hatte den Sommer über viel zu tun gehabt und erst einen Monat nach ihrer Entlassung aus dem Krankenhaus Zeit für einen Besuch gefunden. Sie empfing mich mit Kochschürze in der Küche und wirkte etwas wirr und verhuscht. Irgendetwas stimmte nicht. Sie tischte mir einen Topf auf, der meinen geliebten Milchreisauflauf enthalten sollte. Aber was im Topf war, sah ganz anders aus – ich sah keine goldgelbe Kruste, nur eine weiße Substanz aus völlig verkochtem, beinahe flüssigem Reis. Hatte sie das Ei vergessen oder zu wenig Milch genommen? Ich probierte höflich, musste aber den Mund verziehen: Es war salzig! Meine Mutter ließ keine weitere Kostprobe zu, nahm den Topf vom Tisch und murmelte:
    »Ich muss noch üben.«
    Sie verschwand im Bad und schüttete den gescheiterten Milchreis weg. Die Klospülung übertönte ihr Schluchzen nicht ganz.

Kapitel 5
    Leichte kognitive Beeinträchtigung
    Von mangelnder ›Krankheitseinsicht‹ konnte bei meiner Mutter anfangs nicht die Rede sein. Als die Gedächtnisschwächen nach ihrer Hüft-OP 2006 nicht wieder ganz abklangen, plagte sie weiterhin die Sorge, sie werde Alzheimer bekommen, und sie bemühte sich wieder selbstständig um einen Termin beim Psychologen. Am Telefon sagte sie zu mir, dass sie ganz »blöd im Kopf« werde und es ihr am liebsten wäre, wenn man ihr einfach eine Pille fürs Gehirn geben würde. Das Problem dabei war nur, dass kein Arzt sie für demenzkrank hielt, ihr somit auch keine speziellen Medikamente verschrieb. Gretel gelang es zwar nur noch durch langes Nachdenken oder mithilfe ihres Kalenders auf den laufenden Wochentag zu kommen, doch während der neuropsychologischen Untersuchung lief sie zu Höchstleistungen auf. Die Rechenaufgaben löste sie mit Bravour und auch wenn sie beim Merken von Wortreihen Schwierigkeiten hatte, blieb sie souverän und selbstbewusst. Beim sogenannten Clock Drawing Test zeichnete sie eine besonders schöne Uhr mit Ziffernblatt und konnte diverse Zeigerstellungen korrekt markieren. Sie erweckte beim Arzt den Eindruck, gut orientiert zu sein, obwohl sie schon die größten Schwierigkeiten hatte, von zu Hause aus alleine den Weg zum Bahnhof zu finden. Aus psychologischer Sicht wurde ihr im Verhältnis zu ihrem Alter keine geistige Schwäche attestiert. Mein Vater erklärte diese erstaunliche Einschätzung damit, dass Gretel den Arzt »um den Finger gewickelt« habe. Aberauch die unbestechlichen Maschinen stellten ihr ein gutes Zeugnis aus. Weder Computer- noch Kernspintomografie konnten in Gretels Kopf etwas Besorgniserregendes aufdecken. Lediglich eine

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