Vergiss mein nicht (German Edition)
meinen Beinen mehr gehabt.
Aber wer war für Gretel die sorgenvolle Mutter, als ihre Hüft-Operation ins Haus stand? Arme Gretel! Noch in der Nacht vor der Operation schrieb sie in ihr Tagebuch:
20. Juli 2006. Markuskrankenhaus. Morgen wird meine rechte Hüfte operiert. Ich soll mir eine Vollnarkose geben lassen. Das rechte Bein wird etwas länger werden als das linke (solange das linke nicht auch erneuert wird). Der Grund: das Hüftgelenk, das ich hab, ist stark gebogen am Kopf (links auch). Ich denke, wenn ich das gewusst hätte, hätte ich alles gelassen wie’s ist und wäre weiter gehinkt. So werde ich praktisch zu zwei Operationen gezwungen. Ich bin schon wieder dabei, meinen Entschluss zu bereuen. Jetzt ist’s zu spät. Die Operation ist angelaufen, die Vorbereitungen im Krankenhaus sind getroffen.
21. Juli. Die Operation ist gut gelaufen, aber ich habe nicht mitgekriegt, wie ich eingeschläfert wurde und seltsamerweise auch nicht, wie ich aufgewacht bin. Merkwürdig.
22. Juli. Malte ist wieder da mit Äpfeln + Joghurt – herrlich! Beim Aufstehen morgens unter der Aufsicht von Joachim (Pfleger) wird mir schwindlig und irgendwie schlecht (zu niedriger Blutdruck?). Der Pfleger behauptet, ich sei kollabiert.
Bald danach brachen ihre Tagebucheintragungen ab, und ihre Aufzeichnungen setzten sich nur noch sporadisch auf Zetteln und Notizen in ihrem Terminkalender fort. Einige Tage nach der OP, als sie in die Reha-Klinik verlegt worden war, klagte sie darüber, dass sie nicht wisse, wo sie sei und große Schwierigkeiten habe, sich die Gesichter der Ärzte, Schwestern und Pfleger zu merken. Als ein junger Physiotherapeut, an den sie sich gewöhnt hatte, sie durch eine Namensverwechslung nicht mehr weiter behandeln konnte, reagierte sie fassungslos. Immer wieder fing sie unvermittelt zu weinen an. Im Krankenhaus hieß es, sie habe wohl ein ›Durchgangssyndrom‹, das typischerweise ein paar Tage nach einer schwerenOP mit Vollnarkose auftrete. Dieses Phänomen werde auch postoperatives Delirium genannt und sei eine Reaktion des Körpers auf den Schock der Operation. Der Zustand geistiger Verwirrung sei aber zeitlich begrenzt, und der Patient erhole sich normalerweise von selbst wieder.
Aber Gretel blieb sehr beunruhigt. Sie erzählte mir am Telefon, sie könne sich nichts mehr merken und müsste immer wieder zwanghaft auf die Uhr schauen, wie in einer Endlosschleife, da sie ständig wieder vergesse, wie spät es sei. Meinem Vater gegenüber sagte sie, sie könne sich nicht mehr vorstellen, wie ihr Schlafzimmer aussehe. »Ich brauche einen Neurologen für meine Demenz!«, verkündete sie und bestellte einen Neuropsychologen, um sich untersuchen zu lassen. Der machte die einschlägigen Tests mit ihr, stellte jedoch nichts Auffälliges fest. Sie konnte zwar nicht alle Bundeskanzler Deutschlands aufzählen, aber sie wusste ihre Zimmernummer und das Wichtigste, was ihre Familie betraf. Bei den kognitiven Tests schnitt sie für ihr Alter überdurchschnittlich gut ab, Rechenaufgaben löste sie spielend. Keine Anzeichen für eine Demenz, urteilte der Arzt. Unter Umständen liege eine depressive Verstimmung vor.
Nach zehn Tagen in der Reha verheilte Gretels Hüfte gut, der Krankengymnast war zufrieden und meine Mutter war froh, nach Hause zu dürfen. Aber vor der weißen Haustür fragte sie: »War die nicht blau?« Auch ihr Zimmer erschien ihr fremd.
20 Jahre zuvor hatte mein Vater schon einmal eine ähnliche Situation mit meiner Mutter erlebt. Damals hatte Gretel nach einer Hirnblutung einen Gedächtnisausfall erlitten. Während einer morgendlichen Gymnastikübung hatte sie eine seitliche Kopfbewegung gemacht und plötzlich rasende Kopfschmerzen bekommen. Dann war sie zusammengebrochen und hattefür einen Moment das Bewusstsein verloren. In den nächsten Tagen gingen die Kopfschmerzen nicht weg, sie litt unter Übelkeit und Gleichgewichtsproblemen. Essen konnte sie nicht bei sich behalten. Als sie sich zum Hausarzt schleppte, überwies der sie sofort ins Krankenhaus, wo man die Hirnblutung feststellte, ohne sie genau lokalisieren zu können. Zeitweise hatte Gretel ihr Gedächtnis vollständig verloren und war völlig desorientiert. Der behandelnde Arzt sagte meinem Vater unter vier Augen: »Die wird nicht mehr.« Er erklärte ihm, er müsse sich auf bleibende Hirnschäden und eine geistige Behinderung seiner Frau einstellen.
Gretel war anfangs im Krankenhaus sehr niedergeschlagen. Einer Freundin, die sie besuchte,
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