Vergiss mein nicht (German Edition)
Betagte in Deutschland, wie das in den meisten anderen europäischen Ländern üblich ist. Aber bis ein solches Gesetz im Land der ›freien Fahrt für freie Bürger‹ verabschiedet ist, bin ich wahrscheinlich längst selber dement. So blieb mir lediglich die Hoffnung, eine ›amtliche‹ medizinische Diagnose könnte genügend Eindruck auf meine Mutter machen, sodass sie einsähe, dass es besser sei, das Autofahren aufzugeben. Aber Gretels Motivation, sich um Arzt-Termine zu bemühen, war mittlerweile drastisch gesunken. Sie erzählte mir von einer Demenz-Selbsthilfegruppe, die sie eigentlich einmal aufsuchen wollte, die aber dummerweise immer dienstags sei. Da könne sie leider nicht, wegen ihrer Streichquartett-Probe. Die vom Neurologen empfohlenen Gedächtnistrainings-Bücher hatte sie sich besorgt, befand sie aber für langweilig und benutzte sie nicht. Die mathematischen Aufgaben waren ihr zu leicht. So fehlte ihr bei aller Einsicht und Sorge letztlich der Wille, grundlegende Maßnahmen zu ergreifen. Sie hatte ja schließlich auch keine offizielle Alzheimer-Diagnose bekommen. Dabei wollte sie es jetzt am liebsten auch bewenden lassen. Sie bekundete zwar noch ab und an den Wunsch, zum Arzt zu gehen, aber sie kam nie dazu, einen Termin zu machen oder vergaß es schlichtweg. Sie sagte mir auch, dass sie es nicht so gern habe, wenn man ihren Kopf untersuchte.Ganz besonders ungern hatte sie es aber, wenn man für sie über ihren Kopf hinweg Termine machte.
Am Telefon sagte mein Vater, dass er einen Arztbesuch doch nicht gegen ihren Willen durchsetzen könnte. Ich entschloss mich, für ein paar Tage zu meinen Eltern zu fahren und für die Überzeugungsarbeit bei meiner Mutter meinen Nesthäkchen-Bonus in die Waagschale zu werfen. Es musste endlich eine medizinische Erklärung und ärztliche Hilfe gefunden werden! Ich vereinbarte ein Angehörigen-Vorgespräch in der Praxis, die sich der Neurologe, der Gretel schon in der Reha-Klinik untersucht hatte, mit einem Psychologen teilte. Zusammen betrieben sie eine ›Gedächtnisambulanz‹. Wenn mein Vater und ich mit gutem Vorbild voranschritten, würde meine Mutter hoffentlich nachziehen! Eine Woche vor dem Termin fuhr ich nach Bad Homburg, um für das Vorgespräch auf dem Laufenden zu sein.
Bei meiner Ankunft wurde mir drastisch bewusst, dass die Zeit mit leckeren Lieblingsspeisen und Mamis Milchreisauflauf endgültig vorbei war. Es gab eine fade Karottensuppe und schlabbrigen Salat mit ranziger Soße. Seltsamerweise schien das meinen Vater gar nicht zu stören. Für einige von Gretels Schwächen war er offenbar blind. Und was er nicht sah, roch er wohl auch nicht. Lapidar kommentierte er, dass Gretel seit einiger Zeit nur noch einfache Suppen und Salate hinkriegte. Für Suppen brauchte sie nur etwas Gemüse pürieren, und bei einem Salat konnte ja auch nicht viel schiefgehen. Ich beklagte mich über die ungenießbare Salatsoße, und Gretel erklärte, dass sie seltsamerweise keinen Geschmackssinn mehr habe und nur noch bedingt riechen könnte. Ich wollte es genauer wissen, und wir führten eine kleine Versuchsreihe durch. Ich presste eine Zitrone und gab ihr den Saft pur zutrinken. Sie fand das schmecke »angenehm«. Mein Vater trieb ein Stück 80%-Bitterschokolade auf. Das schmeckte ihr »fad«. Pure Butter dagegen war »lecker«. Süß und salzig konnte sie noch einigermaßen gut wahrnehmen. Zu naturtrübem Apfelsaft sagte sie: »Schmeckt!« Aber der Duft einer Hyazinthe, die mein Vater im Garten gepflückt und aufgestellt hatte, lag deutlich unter ihrer Wahrnehmungsgrenze.
Doch weitaus schlimmer als ihre eingeschränkten Geruchsund Geschmacksinne erschien mir, dass sie seit ihrer Hüft-Operation vor einem Jahr vieles einfach schleifen ließ. Sie kümmerte sich nur noch sehr eingeschränkt um den Haushalt, und Gespräche mit ihr waren nicht mehr so komplex und lang wie früher. Oft suchte sie nach Worten oder verwechselte sie, wie etwa ›Korkenzieher‹ mit ›Schraubenzieher‹ oder ›Pferd‹ mit ›Herd‹. Aber auch nicht so naheliegende Irrtümer kamen vor. Zum Beispiel fragte sie mich, als sie vom Balkon aus eine Reihe von LKWs beobachtete: »Was machen denn all die Bullen da unten?«
Den Fehler bemerkte sie dabei selbst gar nicht. Einen Knopf an ihrem ›Hemd‹ bezeichnete sie ganz selbstverständlich als ›Tüte‹. Manchmal kannte sie ein Wort noch in einem Satz, doch schon im nächsten fiel es ihr nicht mehr ein: »Wo ist denn der Klebestreifen? Sagt
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