Vergiss mein nicht (German Edition)
Verringerung ihres Geschmacksinns und ein leicht ›positiver Schnauzreflex‹ wurden festgestellt. Beides sind mögliche Hinweise auf eine neuronale Erkrankung, aber keine zwingenden Indizien.
Der Befund war natürlich erst einmal beruhigend. Kein Tumor und kein Alzheimer! Aber konnten Gretels Erinnerungsschwierigkeiten mit normaler Altersvergesslichkeit erklärt werden? Wenn man Demenz ausschloss, tauchten allerhand andere mögliche Ursachen auf. Waren ihre Probleme auf eine fehlerhafte Schilddrüse oder Vitamin-B-12-Mangel zurückzuführen? Gab es Nachwirkungen ihrer Hirnblutung von vor 20 Jahren? Immer wieder wurde der Verdacht geäußert, eine Depression könne hinter allem stecken. Und mehrmals wurden wir gefragt: »Trinkt sie denn genug?« Dehydrierung kommt bei alten Menschen schnell vor und kann akut zu Gedächtnisstörungen führen. Das war aber sicherlich nicht Gretels Problem. Genauso wenig hielten wir sie für depressiv. Dagegen waren Herzrhythmusstörungen und niedriger Blutdruck bei ihr schon immer ein Problem gewesen. So wurde vermutet, sie könne unter Durchblutungsstörungen im Gehirn leiden.
Ein Jahr nach ihrer Hüftoperation schien sich das zu bestätigen. Während eines Spaziergangs in sommerlicher Hitze wurde ihr plötzlich schwindlig, und ihr Kreislauf brach zusammen. Mit Müh’ und Not schleppte sie sich nach Hause. Nachts bekam sie Zähneklappern und einen Fieberschub. Am nächsten Tag war das Fieber zwar weg, aber der Hausarzt stellte extrem niedrigen Blutdruck fest und überwies sie in eine Spezialklinik, wo umfassende Herzuntersuchungen durchgeführt werden sollten. Mein Vater machte sich für dasGespräch mit den Spezialisten eine Liste von Gretels akuten Problemen:
Rapider Gedächtnisverlust; körperliche Schwäche; Schmerzen beim Laufen nach Hüftoperation 2006; unregelmäßiger Herzschlag; vor einer Woche plötzlich heftiges Zähneklappern und Fieber; Appetitlosigkeit und unangenehmes Aufstoßen; niedriger Blutdruck; Ängstlichkeit; Verlust von: Selbstvertrauen, Mut, Aufnahmefähigkeit, Lebensfreude.
EKG und Herz-Tests ergaben aber keine bedenklichen Schwankungen und auch ihre Herzklappe erwies sich als gesund. Somit gab es keine stichhaltigen Hinweise auf eine Durchblutungsstörung im Gehirn, und das Rätsel um Gretels Gedächtnisschwund blieb bestehen. Meine Mutter war weiterhin selber mit Ursachenforschung beschäftigt und schrieb sich in der Klinik diese Merkzettel:
– Mit Arzt besprechen, dass ich öfters ›Voltaren‹ wg. Schmerzen in den Beinen genommen habe. Was tun für bessere Leistungen?
– Prüfung des Gedächtnisses bei Zahlen sehr gut, sonst auch nicht schlecht, aber keine Erinnerung an Blutung im Kopf?
– Woran liegt das schlechte Erinnerungsvermögen? Herz-Messungen? Was tun für bessere Leistungen?
Die Flut von Merkzetteln und Gretels gesteigertes Bedürfnis nach genauer Planung ließen ahnen, wie unsicher sie sich innerlich fühlte. Bei einem Besuch bald nach ihrem Zusammenbruch fand ich diese Zettelbotschaft:
Hi Malte,
die Scherben im Keller hab ich zusammengekehrt.
Ich stehe morgen um halb 7 auf, mach mich geruhsam fertig und »nehme mein Frühstück ein« wie verlangt. Wir müssen dann wg. Staugefahr so um viertel vor 8 abfahren.
Bis dann
schlaf gut trotz Ozon
Gr
Inhalt und Formulierung fand ich befremdlich – hatte sie den Zettel auch für sich selber zur Erinnerung geschrieben? Aus der Botschaft sprach für mich vor allem aber eine erschreckende Entfremdung von meinem Vater.
Als ich mit Gretel einen kurzen Spaziergang machen wollte, erlebte ich ein absurdes Theater. Wie gewohnt nahm sie ihren Hausschlüssel aus dem Kästchen am Telefon und steckte ihn in ihre Jackentasche. An der Tür vergewisserte sie sich, ob der Schlüssel auch wirklich noch in ihrer Tasche war. Sie war aber leer. Also ging sie wieder zurück zum Schlüsselkasten, doch auch dort war der Schlüssel nicht zu finden.
»Wo in Herrgotts Namen hab’ ich Esel denn nur meinen Schlüssel hin?«
»Gretel, du hast ihn gerade in deine Tasche gesteckt.«
Sie guckte noch einmal in ihrer Jackentasche nach und fand nichts.
»Nicht in der. In der anderen.«
Und siehe da: Da war der Schlüssel! Den beförderte sie jetzt in die Jackentasche, in der sie ihn kurz zuvor noch vergeblich gesucht hatte. Jetzt konnte es endlich losgehen! Bevor sie durch die Tür ging, tastete sie misstrauisch in ihrer Jacke nach dem Schlüssel und fand ihn schon wieder nicht. So ging das Theater wieder von
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