Vergiss mein nicht (German Edition)
vorne los. Ihr zu erklären, dass sie gar keinen Schlüssel brauchte, war aussichtslos: »Wer weiß, ob wir zusammen nach Hause kommen. Vielleicht muss ich ja früher zurück oder hab’ etwas vergessen.« DerSchlüssel war ein Symbol ihrer Autonomie, die sie nicht verlieren wollte, aber ständig bedroht sah.
Ähnlich symbolisch für ihre Unabhängigkeit, aber ungleich gefährlicher als ihr Bedürfnis nach dem eigenen Schlüssel, war ihr Autofahren. Sie fuhr zwar theoretisch noch sicher, machte den Schulterblick beim Abbiegen und wusste, wie der Wagen zu bedienen war, aber wehe, wenn sie den Weg nicht kannte oder etwas Unvorhergesehenes wie eine Baustelle auftauchte. Und auch, wenn alles wie gewohnt war, konnte es brenzlig werden. Sie beichtete mir beispielsweise, dass sie mit dem Fahrrad eine rote Ampel überfahren hatte, da sie rot für grün hielt. Die Autos hätten wütend gehupt, als sie die Kreuzung überquerte, und ihr einen gehörigen Schrecken eingejagt. Mich beunruhigte der Gedanke, meine Mutter allein am Steuer zu wissen, zumal örtliche Orientierung für sie auch schon zu Fuß schwierig genug war.
In regelmäßigen Abständen besuchte sie Nachtreffen der ehemaligen Lehrer des Sprachinstituts, in dem sie über 20 Jahre gearbeitet hatte. Normalerweise wurde sie von einer Kollegin mit dem Auto abgeholt. Doch wenn das Treffen ganz in der Nähe stattfand, hatte Gretel Pech. Sie musste dann zwar nur zehn Minuten in die verkehrsberuhigte Altstadt laufen, aber sie hatte größte Angst, den Weg nicht zu finden. Um gut vorbereitet zu sein, ging sie deswegen am betreffenden Tag die Strecke vorsorglich mehrmals ab. Sie prägte sich markante Gebäude sowie Straßennamen ein und machte sich Notizen, damit sie sich abends auf keinen Fall verlaufen würde.
»Gretel, meinst du wirklich, dass es noch so eine gute Idee ist, allein Auto zu fahren?«, fragte ich sie beiläufig am Tag meiner Abreise, als sie mich zum Bahnhof bringen wollte.
»Was denn? Ich kann doch fahren und hab einen Führerschein!«, erwiderte sie beleidigt.Zurück in Berlin erzählte ich einem Bekannten von meinen Sorgen. Er klopfte mir auf die Schulter: »Ach weißt du, mein Alter hat auch Alzheimer. Ist körperlich noch ganz fit, aber orientiert ist der auch nicht mehr. Nach Hause findet der nur noch mit dem Navi.« Das klang für mich zwar nicht sehr beruhigend, aber immerhin stellte es für meine Mutter eine große Hilfe dar, als Malte für das Auto ein Navigationsgerät anschaffte. Hatte man ihr das Gerät richtig eingestellt, folgte sie bereitwillig den Instruktionen des Automaten und konnte so zumindest theoretisch sicher zum Ziel gelangen. Doch was nützt das beste Navigationsgerät, wenn man rot für grün hält? Und was, wenn das Gerät irrt, eine empfohlene Autobahnausfahrt gesperrt ist oder die vorgeschlagene Route durch einen Fluss verläuft? Bei meinem nächsten Besuch in Bad Homburg nutzte ich eine gemeinsam Autofahrt, um mir ein Bild zu machen, wie gut Gretel noch allein hinter dem Steuer zurechtkam. Wir wollten meine Schwester besuchen, die etwa 40 Kilometer von meinen Eltern entfernt wohnt. Ich ließ Gretel fahren und stellte ihr das Navigationsgerät ein. Sie folgte konzentriert den Anweisungen des Gerätes, bis wir an eine Kreuzung mit einem Straßenbahnübergang kamen. Sie steuerte wie angegeben nach links, allerdings nicht auf die Straße, sondern auf die Schienen. Ich konnte ihren Kurs noch korrigieren, stellte mir aber nur ungern vor, was passiert wäre, wenn ich nicht dabei gewesen wäre.
»Fühlst du dich nicht unsicher, wenn du Auto fährst?«, sprach ich sie bei nächster Gelegenheit in einer entspannten Situation an. »Du gefährdest ja nicht nur dich selbst.«
»Wie bitte? Was meinst du denn? Ich hab doch noch nie einen Unfall gehabt!«
An die heikle Situation am Bahnübergang konnte oder wollte sie sich einen Tag später nicht mehr erinnern. Vor meiner Abfahrt redete ich meinem Vater ins Gewissen, er müsseGretel irgendwie daran hindern, weiterhin allein mit dem Auto zu fahren. Malte legte seine Stirn in Falten: »Das kann ich ihr nicht verbieten. Es ist ja schließlich auch ihr Auto.«
»Dann versteck halt den Schlüssel.«
»Das kann ich nicht machen.« Er schüttelte ratlos den Kopf. »Ich habe vor ihr nichts zu verbergen, und sie ist doch sowieso schon genug mit Suchen beschäftigt.«
Seit den Erfahrungen mit meiner Mutter bin ich stark für die Einführung einer gesetzlichen Führerschein-Nachprüfung für
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