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Vergiss mein nicht (German Edition)

Vergiss mein nicht (German Edition)

Titel: Vergiss mein nicht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Sieveking
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mal, kann mir einer sagen, wo dieses Dingsda ist, wie heißt das doch noch gleich? Das zum Zusammenpappen?«
    Am Abend gingen wir wie früher zusammen nach Frankfurt ins Kino, aber nach dem Abspann über die Filmhandlung zu sinnieren erübrigte sich, da sie die längst vergessen hatte. Am nächsten Tag wusste sie schon gar nicht mehr, dass wir überhaupt im Kino gewesen waren. Sie wollte dann denselben Film, den sie sich in der Programmzeitung angestrichen hatte, noch einmal ansehen und war schockiert, als ich ihrerklärte, wir hätten den Film doch schon am Abend zuvor gesehen: »Ojemine. Ich dumme Kuh! Ich werd schon ganz verzwatzelt!« Die ständige Konfrontation mit ihrer Vergesslichkeit war ihr unangenehm. Ich versuchte dazu überzugehen, sie nicht mehr ständig zu korrigieren, obwohl mir andauernd ein ›Gretel, das weißt du doch!‹ auf der Zunge lag.
    Als mein alter Schulfreund Felix zu Besuch kam, warnte ich ihn vorbereitend, es könne gut sein, dass meine Mutter ihn nicht mehr erkannte. Er wollte mir das nicht glauben und tatsächlich begrüßte ihn meine Mutter ganz vertraut und herzlich. Wir freuten uns und Felix zwinkerte mir aufmunternd zu, auch wenn Gretel sein Name nicht mehr einfiel. Während meine Mutter dann den Tisch für Kaffee und Kuchen deckte, verschwand mein alter Spielkamerad für ein paar Minuten ins Bad. Ich machte Gretel währenddessen darauf aufmerksam, dass sie für eine Person zu wenig gedeckt hatte. Sie schüttelte den Kopf und zählte zum Beweis die Personen im Raum ab. Als Felix dann wieder auftauchte, fragte sie ihn erstaunt:
    »Wer sind denn Sie ?«
    Nach ein paar Tagen zu Hause hatte ich keine Zweifel daran, dass ein Arzt bei meiner Mutter eine schwerwiegende neuronale Krankheit feststellen würde. Gewappnet mit Gretels ärztlichen Befunden gingen mein Vater und ich zum Vorgespräch mit dem Neuropsychologen. Wir schilderten ihm die Situation zu Hause, setzten ihm Gretels medizinische Vorgeschichte auseinander, erwähnten ihre Erinnerungslücken, den fehlenden Geschmackssinn, ihre Orientierungslosigkeit und ihre Wortfindungsschwierigkeiten. Der Neuropsychologe hörte unserem Bericht aufmerksam zu und vermutete eine Demenz im weitesten Sinne. Er riet uns, Gretel nicht zu überfordern und sie bei ihm zur Untersuchung vorzustellen.Zufrieden gingen Malte und ich nach Hause. Endlich hatte uns jemand zugehört und den Ernst der Lage erkannt. Gretel ließ sich dann auch breitschlagen, einen Termin zu vereinbaren, und ich fuhr guten Gewissens wieder zurück nach Berlin.
    Doch dann passierte es wieder. Gretel schaffte das Unvorstellbare. Malte brachte sie zur Untersuchung in die Gedächtnisambulanz, die übliche Demenz-Test-Batterie wurde durchgeführt – und wieder wurde sie als ihrem Alter entsprechend geistig auf der Höhe befunden. Demenz schloss der Arzt als Ursache für ihren Gedächtnisschwund aus und vermutete eher eine Depression als Quelle ihrer Verwirrung. Er wollte ihr jedoch zunächst keine Psychopharmaka verabreichen, sondern verschrieb ihr das harmlose Ginkgo-Präparat, das sie sowieso schon einnahm. Außerdem empfahl er die Gedächtnistrainings-Bücher, die sie sich schon längst besorgt und wieder weggelegt hatte. Der Arzt verabschiedete meine Eltern mit dem Versprechen, er werde noch einen Therapie-Vorschlag machen, wenn er aus dem Urlaub zurück sei. Einen Monat später war der Mann entweder immer noch im Urlaub oder hatte den Therapievorschlag selbst vergessen.
    Ich konnte es nicht glauben. Wie hatte Gretel das bloß wieder geschafft? Offenbar gelang es ihr, durch die verbliebenen intellektuellen Fähigkeiten und ihre soziale Kompetenz ihr Unvermögen zu überspielen und geistige Schwäche zu kompensieren. In meinen Augen war sie schon längst zu einem Schatten ihrer alten Persönlichkeit geschrumpft. Die geistreiche, bestens informierte Frau, die scharfzüngig über Politik und Wirtschaft diskutierte, war nicht mehr da. Ihr fiel es schon schwer, einfache Zusammenhänge zu erfassen, geschweige denn, einen abstrakten Standpunkt zu vertreten. Bei Radiosendungen oder Fernsehnachrichten, die sie noch vor einem Jahr kritisch kommentiert hätte, blieb sie jetzt teilnahmslos,hatte oft einen leeren Blick und wohnte Gesprächen als Außenstehende bei.
    Nicht lange nach dieser erneuten ›Pleite‹ in der neuropsychologischen Praxis war ich wieder zurück in Berlin bei der Arbeit, als mein Telefon klingelte.
    »Wo bist du, David?«, fragte mich meine Mutter. »Komm doch zum

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