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Vergiss mein nicht (German Edition)

Vergiss mein nicht (German Edition)

Titel: Vergiss mein nicht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Sieveking
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könne sich eine Therapie mit Medikamenten vorstellen. Hierzu müssten abernoch weitergehende Untersuchungen gemacht werden und ein neues MRT-Bild im Kernspin erstellt werden. Er bat meinen Vater, über die Entwicklung seiner Frau Buch zu führen und man schob Gretel ein weiteres Mal durch die ›Röhre‹, um ihren Kopf zu durchleuchten. Das Bild von Gretels Gehirn bestätigte den Eindruck des Professors, der abschließend zu meinem Vater sagte: »Das mit der Demenz schlagen sie sich mal aus dem Kopf, Herr Sieveking! Kommen sie in einem Jahr wieder.«
    Da war der Alzheimerforscher jedoch bereits pensioniert.
    Für meinen Vater war der medizinische Befund ein Schlag vor den Kopf. Er verlor nach diesem Termin das Vertrauen in die Medizin und erklärte: »Die können vielleicht mit Ratten tolle Versuche machen, aber den Menschen können sie nicht helfen.«
    Immerhin gab es jetzt eine Diagnose, auch wenn sie sich lächerlich anhörte: ›Leichte kognitive Beeinträchtigung‹ (LKB). Ich schlug den Begriff nach und erfuhr, dass LKB eine Einschränkung der Denkleistung beschreibt, die gemäß Alter und Bildung einer Person unnormal groß sei. Für die Diagnose einer LKB müssen die Gedächtnisstörungen objektivierbar sein und von Angehörigen wahrgenommen werden. Typisch seien Orientierungsschwierigkeiten und Geruchsstörungen. Etwa 10 bis 20% der Fälle gingen nach einem Jahr in eine Demenz über. Wichtig für die Abgrenzung von einer Demenz sei, dass keine wesentliche Einschränkung der Alltagsaktivitäten bestünde.
    Aber davon konnte ja bei uns nicht die Rede sein! Gretel konnte nicht mehr alleine einkaufen gehen, sie wusste ihr Geburtsdatum nicht mehr und hatte keine Ahnung mehr, wie man eine Salatsoße macht. Konnte da noch von ›intakten Alltagsaktivitäten‹ die Rede sein?

Kapitel 6
    Hoffnungsanker Depression
    Ungefähr drei Jahre vor Gretels verhängnisvoller Hüft-Operation und noch vor ihrem Fahrradunfall 2004, also lange, bevor Gretels Gedächtnislücken sich bemerkbar machten, wurde ich zu einem ›Familienrat‹ nach Hause befohlen. Ich wusste nicht, wer dies initiiert hatte, vermutete meine ältere Schwester dahinter und reiste mit befremdeter Neugier an. ›Familienrat‹ klang für mich ungewohnt. Ich erfuhr, dass der Begriff bei uns eigentlich von meiner Mutter geprägt worden war und man sich früher öfter so zusammengefunden hatte, wenn es etwas Wichtiges zu besprechen gab. Aber das war wohl in meiner Kindheit und Jugend aus der Mode gekommen, oder man hatte mich nicht einbezogen. Mir erschien dieser ›Rat‹ jedenfalls aus grauer Vorzeit, ein Relikt aus den 70ern, und bei dem Treffen fühlte ich mich als Zaungast.
    Als meine Geschwister und ich uns in der Küche um meine Eltern versammelten, begannen Gretel und Malte, uns ihre Probleme zu schildern. Ihre Entfremdung ging mittlerweile weit über getrennte Schlafzimmer und Urlaube hinaus, denn seit einiger Zeit hatten sie grundsätzlich Schwierigkeiten, überhaupt noch miteinander zu reden. Malte versuchte, das Problem aus seiner Sicht zu beschreiben: »Ich gehe einmal die Woche für zwei, drei Stunden im Wald joggen. Während ich so durch den Wald laufe, überlege ich mir dann gerne eine radikale Ansicht zu irgendeinem Thema.« Wenn er dann zurückgekehrtwar und Gretel in der Küche traf, wollte er ihr seine Denkleistung präsentieren und sie in eine Diskussion verwickeln. Doch sie sprang auf seine intellektuelle Vorlage nicht an, sondern wich ihm aus, entdeckte etwa einen Fleck auf seinem T-Shirt, der unbedingt entfernt werden musste, oder sie fragte ihn, ob er nicht mal den Müll rausbringen könne. Malte ärgerte sich dann maßlos. Er wollte mit ihr über Nietzsches Religionskritik oder Adam Smiths Theorie der moralischen Gefühle sprechen, und sie drückte ihm eine Mülltüte in die Hand. Er fühlte sich verhöhnt und abgewiesen.
    Gretel erklärte ihr Verhalten damit, dass sie meistens einfach nicht verstand, worüber Malte redete, und ihr außerdem ganz andere Dinge auf dem Herzen lagen als philosophische Debatten. Sie fügte hinzu, dass sie Malte zwar unheimlich gerne zuhöre, es ihr aber lieber sei, wenn er nicht mit ihr, sondern mit jemand anderem rede: »Mir gefällt es zum Beispiel sehr, wenn er mit David Witze macht.«
    Dass dieser Konflikt vielleicht schon auf einen beginnendem intellektuellen Abbau bei Gretel hinwies, kam damals keinem von uns in den Sinn. Es hörte sich ganz nach typischen Eheproblemen an. Autofahren war auch damals

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