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Vergiss mein nicht (German Edition)

Vergiss mein nicht (German Edition)

Titel: Vergiss mein nicht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Sieveking
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Last fallen. Dann führten wir Kinder taktische Telefongespräche, in denen wir überlegten, wer wann wie wo mitfahren könnte, um es irgendwie abzuwenden, dass Gretel allein im Auto fuhr.
    Einmal waren Gretel und Malte wieder in Bielefeld, um auf ihre Enkeltochter aufzupassen, da meine Schwester auf einen Kongress verreist war. Sie waren am Wochenende angereist und sollten ein paar Tage bleiben, bis meine Schwester wieder zurückgekehrt war. Gretel stellte dann bei einem Blick in ihren Terminkalender fest, dass sie am Montag eine Chor-Probe hatte, bei der sie nicht fehlen wollte. Mit dem Zug zurückzufahren, lehnte sie ab, da sie über schmerzende Füße klagte. Stattdessen schlug sie Malte vor: »Fahr du doch mit dem Zug! Ich kann dich ja dann vom Bahnhof abholen.«
    Sie ließ sich nicht umstimmen und setzte sich am Sonntagnachmittag ins Auto. Sie verfuhr sich dann auch prompt auf der gut 300 km langen Strecke und verlor bei Einbruch der Dunkelheit die Orientierung. Per Handy lotste mein Vater sie dann doch noch irgendwie nach Hause, wo sie Mitten in der Nacht völlig erschöpft anlangte.
    Bald darauf kam dann die Nachricht, die ich so lange befürchtet hatte: Gretel hatte einen Unfall gehabt – wenn auch zum Glück nur einen sehr glimpflichen. Der Auffahrunfall ereignete sich bei uns zu Hause um die Ecke an einer Fußgängerampel. Es entstand nur geringer Sachschaden. Gretel schrieb selbst einen handschriftlichen Entwurf für den Bericht an die Versicherung. Das Abtippen und die Zeichnung zur Darstellung des Hergangs erledigte mein Vater. Gretel war rechts abgebogen und hatte sich so stark auf das Ampelsignal und mögliche Fußgänger konzentriert, dass sie vergaß, den Wagen wieder geradeaus zu steuern. Der Wagen blieb eingeschlagen und prallte rechts auf ein parkendes, jedoch besetztes Auto. Die Frau auf dem Fahrersitz blieb unverletzt. Zum Glück jagte der Vorfall Gretel einen derartigen Schrecken ein, dass sie von nun an darauf verzichtete, selbst am Steuer zu sitzen. Ich war froh, dass wir noch einmal heil davongekommen waren, aber es war natürlich schade, dass sie schon wieder eine Fähigkeit und ein Stück ihrer Selbstständigkeit eingebüßt hatte. Ihre Mobilität schrumpfte zusehends, ab und zu benutzte sie zwar ihr altes klappriges Fahrrad, aber eigentlich nur, um Einkaufstüten daran zu hängen.
    Meine jüngere Schwester wollte Gretels Lust am Radfahren wieder neu entfachen und ihr zum Geburtstag eine Freude machen. Sie tat sich mit meinem Vater und seiner Mutter zusammen, und gemeinsam besorgten sie ihr ein schönes neues Fahrrad, das ihr die Angst vorm Fahren nehmen sollte. Eine Woche vor ihrem Geburtstag rief mich Gretel an und flüsterte: »David, die wollen mein altes Fahrrad weggeben«, sie klang als liefe sie Gefahr, sich zu verraten. »Die wollen mir ein Neues schenken, aber ich will das gar nicht.«
    Ich versuchte sie davon zu überzeugen, dass es mit dem Geschenk gut gemeint sei und sie das neue Fahrrad doch erst einmal ausprobieren solle. Aber es nützte nichts. Das neueFahrrad rührte sie nicht an. Und auch von dem alten wollte sie nichts mehr wissen.
    Nachdem ich mich längere Zeit nicht mehr zu Hause hatte blicken lassen, bekam ich kurz vor Weihnachten einen Brief von meiner Mutter mit einem 50-Euro-Schein darin:
    22.12.07. Dia David, dass Du morgen kommst, macht mir den Tag schon jetzt zum Freudentag. Der 50er soll Dir die Fahrt hierher ein bisschen erleichtern.
    Ciao, Gretel.
    Von dieser Verabredung wusste ich zwar nichts, und eigentlich hatte ich vorgehabt, erst an Heiligabend zu kommen. Ich hatte Gretel auch schon etliche Male erklärt, dass ich kein Geld mehr von ihr brauchte, aber ich freute mich natürlich trotzdem sehr über die freundliche Einladung und setzte mich ohne Umschweife in den Zug.
    Doch als ich zu Hause angekommen war, verflog die Vorfreude schnell. Weihnachten war bei uns definitiv nicht mehr das, was es einmal gewesen war. Kinderland war abgebrannt! Dieses Jahr lagen keine Geschenke auf dem Gabentisch, sondern die Überraschung waren Staubfahnen und Dreck im Wohnzimmer. Keine Kerzen und kein Weihnachtsbaum waren besorgt, dafür gab es einige neue Merkzettel von meiner Mutter:
    – Was ist Schnauzreflex? MRT? Aromatische Anosmie?
    – Wirkt ein selbstbestimmtes Leben der Demenz entgegen?
    – Doktor will keine Medikamente verschreiben. Statt Demenz Depression?
    Meine ältere Schwester entdeckte im Kühlschrank jede Menge Nahrungsmittel, deren Verfallsdatum

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