Vergiss mein nicht (German Edition)
Essen!«
»Ich bin in Berlin. Im Schneideraum.«
»Malte sitzt hier mit jemandem. Vielleicht ein alter Freund. Ich kenn’ ihn nicht.«
»Gretel, ich kann leider nicht. Die Redakteure kommen gleich zur Sichtung.«
»Oh, wenn die dann kommen, das ist dann schwierig.«
»Ach, das wird schon kein Problem sein. Mein Rücken tut leider etwas weh.«
»Hast du zu viel auf dem Rücken gesessen?«
Bis Ende des Jahres war ich völlig in meine Arbeit eingespannt und versuchte, mich von der Situation zu Hause abzuschotten. Eine Zeit lang rief mich meine Mutter ständig an. Ich wimmelte sie dann meist ab oder vertröstete sie, weil ich einfach keine Zeit hatte, ihr immer wieder alles von vorne zu erklären. Oft hinterließ sie, gleich nach einem solchen Telefonat, eine Nachricht auf meiner Mailbox, in der sie vorsichtig fragte, ob ich mich mal bei ihr melden könnte. Sie klang dann, als hätten wir schon seit Ewigkeiten nicht mehr miteinander gesprochen. Mit der Zeit wurden die Gespräche immer seltsamer, und ich merkte, wie Gretel stetig weiter abdriftete. Einmal rief sie mich an und fragte:
»Ist da jemand?«
»Ja.«
»Ist da etwa jemand am Handy?«
»Ja, hier ist David.«
»Bist du das etwa?«
»Genau.«
»Und? Wann kann man dich denn mal zu Gesicht kriegen?«
»Vielleicht nächstes Wochenende. Nicht dieses.«
»Also nicht dieses, sondern nächstes Handy.«
»Nächstes Wochenende. Dieses Wochenende muss ich arbeiten.«
»Kommst du dann durchs Handy? Aber schöner wär’s natürlich, wenn du wirklich da wärst.«
Irgendwann brachen die Anrufe ab, und für fast einen Monat hörte ich gar nichts von zu Hause. Das wunderte mich zwar, aber ich war auch ganz froh, mich nicht damit beschäftigen zu müssen. An meinem Geburtstag im September klingelte mein Telefon, und zu meiner großen Überraschung war meine Mutter am Apparat. Offenbar hatte sie mich selbstständig angerufen. Hatte sie etwa an meinen Geburtstag gedacht?
»Hallo David, wie geht’s dir?«
»Gut, danke.«
»Ja, das ist ja toll! Und erkennst du mich?«
»Ja klar! Wie schön, dass du anrufst, Gretel.«
»Ich wollte mal hören, ob du ...« Sie suchte spürbar nach Worten.
»... noch am Leben bist?«, ergänzte ich den Satz.
Ich war sehr gerührt, denn seit einiger Zeit spielten Geburtstage von Freunden und Familie eigentlich keine Rolle mehr für sie. Nicht, dass sie mir am Telefon zum Geburtstag gratuliert hätte. Sie fragte einfach, wie es mir ging und schien mit dem Datum nichts Besonderes zu verbinden. War es ihre mütterliche Intuition, die sie geleitet hatte, gerade an diesem Tag meine Nummer zu wählen? Wahrscheinlicher war, dass sie beim Blättern in ihrer Agenda auf meinen Geburtstaggestoßen war. Vielleicht lief sie daraufhin in die Küche, um auf den Küchenkalender zu schauen, oder sie hörte das Datum zufällig im Radio. Jedenfalls ging sie anschließend zum Telefon, wo sie meine Nummer herausfinden konnte, wenn sie den richtigen Zettel fand. Oft hatte sie, wenn sie an diesem Punkt angelangt war, wieder vergessen, was sie eigentlich vorhatte. Wen wollte sie noch gleich anrufen? ›Davids Handynummer‹ steht über dem Telefon groß auf einem Zettel. Vielleicht war dieser auffälligste Zettel am Telefon auch früher der Grund für die ständigen Anrufe gewesen. Jetzt war ich einfach froh, dass sie es wieder einmal geschafft hatte, sich bei mir zu melden, auch wenn sie meinen Geburtstag gar nicht erwähnte.
Nicht lange nach diesem Anruf gelang es meinem Vater, Gretel zu bewegen, noch einmal zum Arzt zu gehen. Diesmal sollte eine Koryphäe der deutschen Alzheimerforschung aufgesucht werden. Ein Professor-Doktor, Chefarzt der Neurologie am Uniklinikum Frankfurt, der an dem Institut wirkte, in dessen Vorgängereinrichtung vor gut 100 Jahren Alois Alzheimer den Morbus Alzheimer entdeckt hatte. Eine bessere Adresse konnte man also gar nicht finden. Aber auch bei dem renommierten Alzheimer-Experten wurde bei Gretel keine Demenz festgestellt. Eine vom Chef angewiesene Diplompsychologin testete Gretel eine Dreiviertelstunde lang, und wieder schnitt sie zu gut ab, um für demenzkrank befunden zu werden. Der renommierte Wissenschaftler erklärte meinem Vater, dass Gretels Gedächtnis »offenbar Schwierigkeiten habe, etwas zu behalten«, eine Alzheimer-Demenz hielt er jedoch momentan noch für ausgeschlossen. Die »leichte kognitive Beeinträchtigung«, unter der Gretel leide, sei aber ein spezielles Forschungsgebiet in seinem Institut, und er
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