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Vergiss mein nicht (German Edition)

Vergiss mein nicht (German Edition)

Titel: Vergiss mein nicht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Sieveking
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verabschiedet, wie ich später von einer Kollegin erfuhr. Als beste und älteste Mitarbeiterin der Schule wurde Gretel feierlich ein riesiger Blumenstrauß überreicht. Die Kollegin merkte dann, wie sie nach der Abschiedszeremonie ganz verloren dastand und keine Ahnung hatte, was man von ihr erwartete. Sie nahm meiner Mutter dann die Blumen ab und brachte sie nach Hause. Weder Malte noch wir Kinder erfuhren von der Verabschiedung und der Bedeutung der Blumen, die ihr Berufsende besiegelt hatten. Mein Vater sagte mir einige Zeit später, die Schule hätte ihr einfach keine Aufträge mehr gegeben, worüber Gretel enttäuscht gewesen sei.
    Traurig darüber, keine Lehraufträge mehr zu bekommen, blieb Gretel noch eine letzte Privatschülerin, die schon seit über 20 Jahren regelmäßig zu ihr kam, um Spanisch zu lernen. Die Frau hatte eine Tochter in Südamerika, die sie manchmal dort besuchte. Sie war bestimmt zehn Jahre älter als Gretel und mittlerweile eine alte Dame geworden. Ich hatte sie besonders ins Herz geschlossen, da sie mir früher als Schulkind immer eine Tafel Schokolade zu ihrem Unterricht mitgebracht hatte. In ihrer Spanischstunde lasen die beiden seit jeher Artikel aus dem Wochenmagazin der spanischen Tageszeitung ›El País‹, die Gretel für die gemeinsame Lektüre ausgewählt hatte, und übersetzten die Texte ins Deutsche.
    Frisch pensioniert ermunterte mein Vater Gretel, doch mal spanische Lieder in den Unterricht einzubauen oder Konversation zu treiben. Aber sie blieb unbeirrbar bei der Zeitschrift und dem dicken spanischen Wörterbuch zur Übersetzungsarbeit. Mein Vater ärgerte sich über Gretels mangelnde Flexibilität, aber bald konnte sie den Unterricht sowieso nur noch mit Müh’ und Not über die Bühne bringen. Immer mehr Worte musste sie nachschlagen, und immer öfter war es ihre Schülerin, die ihr etwas erklären musste.Schließlich übersetzte Gretel die spanischen Artikel wie einen schwierigen lateinischen Text: »Wo ist denn hier das Verb? Komisch, ist das hier etwa das Subjekt – das hat aber eine seltsame Form?«
    Es gab dann einen Punkt, ab dem Gretels Schülerin eigentlich nicht mehr kam, um Spanisch zu lernen, sondern eher, um meiner Mutter Gesellschaft zu leisten. Für Gretel wiederum wurde die Situation immer rätselhafter. Da kam unangekündigt eine alte Frau, die ihr nur vage bekannt vorkam und brachte eine fremdländische Zeitung mit. Die blätterten sie dann zusammen durch, während die Frau ihr erklärte, was auf den Bildern zu sehen war oder was die Überschriften bedeuteten. Und dann zum Abschied drückte die Dame ihr etwas Geld in die Hand. Eines Tages sagte Gretels letzte Schülerin dann zu meinem Vater: »Es hat doch keinen Sinn mehr.« Und es war auch damit vorbei.
    Mein Vater versuchte Gretel zu bewegen, noch an den Treffen ihrer Frauengruppe teilzunehmen, die sie Ende der 70er-Jahre mit aufgebaut hatte und deren treibende Kraft sie lange Zeit gewesen war. Ganz aus eigenem Antrieb aber wäre sie zu den Versammlungen, die nur noch alle paar Monate stattfanden, nicht mehr gegangen. Einzig ihrem Chor und Streichquartett hielt sie tapfer die Treue. Doch sie hatte immer größere Schwierigkeiten, musikalisch mitzuhalten.
    Am Autofahren hielt sie jedoch partout fest. Sie war nicht bereit, einzugestehen, dass dies für sie und andere ein Risiko darstellte. Es hatte sich zwar durchgesetzt, dass Malte sie zu ihren Musikproben brachte, aber Gretel ließ das nur deswegen zu, weil Malte gerne dem Chor oder Streichquartett zuhörte und anschließend noch ein geselliges Abendessen stattfand. Ging es aber um die Frauengruppe, war seine Anwesenheit natürlich weitaus weniger passend, schließlichwar die feministische Kernidee der Gruppe gerade die Abwesenheit von Männern. Normalerweise wurde Gretel von ihren Freundinnen abgeholt, aber die Gefahr, dass sie einfach mal selber losführe, lag ständig in der Luft.
    Besonders brenzlig wurde es regelmäßig, wenn meine Eltern längere Strecken zurücklegten, etwa um mich in Berlin oder meine Schwester in Bielefeld zu besuchen. Der Gedanke, dass, wenn man gemeinsam irgendwohin fuhr, man auch wieder gemeinsam zurückkehrte, war meinen Eltern fremd. Der unbedingte Respekt vor der Freiheit und Unabhängigkeit des Partners war fester Bestandteil ihrer Beziehung. So bestand bei ihren Reisen immer die Möglichkeit, dass meine Mutter sich spontan entschloss, früher zurückzufahren als mein Vater, sie wollte ihm ja auch auf keinen Fall zur

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