Vergiss mein nicht (German Edition)
schon ein Thema. Regelmäßig gerieten sie aneinander, wenn Malte hinter dem Steuer saß und Gretel Angst bekam, sie könnten sich verfahren. Zugegebenermaßen kam das mit meinem Vater auch recht häufig vor. Ob beim Wandern oder Autofahren, mein Vater empfand es als Lebensqualität, eine Unternehmung nicht durchzuplanen und, wenn nötig, einen Umweg in Kauf zu nehmen: »Oft erlebt man die schönsten Sachen, wenn man sich verläuft!«, war seine Devise. Gretel dagegen bereitete sich stets sorgfältig mit Karten und Wegbeschreibungen vor. Eigentlich hätten sie sich gut ergänzen können, doch wenn Gretel ihn beim Autofahren etwa anwies, er sollesich links einordnen oder den Blinker setzen, da man ja bald auf die Ausfahrt müsse, empfand er das als Gängelung.
Ich sah das alles nicht so dramatisch, schließlich hatten meine Eltern immer schon diese Konflikte gehabt. Malte hatte mir einmal erzählt, dass es schon während der Flitterwochen mächtig zwischen ihnen geknirscht hatte. Sie waren zu einer zweiwöchigen Wanderung an die kalabrische Küste nach Italien gereist. Malte fand es herrlich, einfach draufloszuwandern, wo man schlafen werde, könne man ja am Abend sehen, wenn man müde sei. Es werde sich schon ein netter Bauer oder eine verlassene Scheune finden. Gretel fand den Gedanken, während der Flitterwochen überhaupt nicht zu wissen, wo man schlafen werde, gar nicht so verlockend. Aus diesem Urszenario ihrer Ehe entwickelte sie sich zum Chefplaner unserer Familie und Malte sich zum ›Herr von Verrücktenstein‹. Während mein Vater komplizierte mathematische Modelle durchdachte und sich über Raum und Zeit Gedanken machte, koordinierte Gretel Familie und Haushalt. Irgendwann sagte mir Gretel, dass sie sich sehr wundere, dass Malte nie seine Briefe öffne. Er konnte sich eben darauf verlassen, dass seine Frau das für ihn erledigte. Gretel sagte mir auch, dass sie sich ihre Rolle in der Familie nicht freiwillig ausgesucht habe. Unter ihren drei Schwestern war sie die verrückte, spontane gewesen, die auf Abenteuer aus war. Sie war diejenige, die mutig drauflosschwamm, wenn es galt, einen See zu überqueren und sich sonst niemand traute. Als ihr einmal beim Wandern das Geld verloren ging, trampte sie eben nach Hause. Sie war von Haus aus eher die wilde Ausreißerin als die vorausschauende Organisationskraft. Doch gegenüber dem ›Planungsphobiker‹ Malte wurde sie dann in diese Rolle gedrängt.
Nach der Anhörung im Familienrat mahnten meine Schwestern, mein Vater möge doch etwas mehr Rücksicht auf Gretelnehmen und sie im Haushalt mehr unterstützen. Es ließ sich damals niemand träumen, dass sich nur ein paar Jahre später alles komplett auf den Kopf gestellt haben würde: Jetzt war Malte der Herr im Haushalt, musste den ganzen Papierkram erledigen und sogar dafür sorgen, dass seine Frau sich richtig anzog und die Zähne putzte. Plötzlich stand er komplett in der Verantwortung. Der Rollentausch ging natürlich nicht so ohne Weiteres über die Bühne. Beide Persönlichkeiten wehrten sich mit Händen und Füßen gegen die Umwälzungen.
In den Jahren nach ihrer Hüftoperation büßte Gretel wie im Zeitraffer eine Fähigkeit nach der anderen ein. In wenigen Jahren welkten all ihre Aktivitäten dahin. Die morgendlichen Turnübungen gehörten bald der Vergangenheit an, das politische Engagement im ›Energiewende-Komitee‹ versandete und auch ihr Interesse für Sprachen schlief ein.
Noch bis zum Alter von 69 Jahren hatte sie in einer Schule gearbeitet und Deutsch als Fremdsprache unterrichtet. Doch dann war es mit ihrer Arbeit ziemlich sang- und klanglos zu Ende gegangen. Keiner von uns wusste, wann Gretel in den Ruhestand versetzt worden war. In ihrer Sprachschule hatte sie einen legendären Ruf als Deutschlehrerin gehabt. Sie hielt sich nicht an das Lehrbuch und war für ihr ungewöhnliches Unterrichtsmaterial bekannt. Unter den Kolleginnen galt sie mit ihrem linguistischen Hintergrund und ihrer Vorliebe für Grammatik als Sprachgenie. Sie sprach fließend Englisch und Spanisch, passabel Französisch sowie Italienisch und sogar etwas Polnisch und Arabisch. Wegen ihrer souveränen Art und Weltläufigkeit bekam sie die prominentesten Schüler des Instituts, wie zum Beispiel den Tennistrainer von Boris Becker oder den amerikanischen Vorstandschef des Pharmakonzerns Lilly . Nach ihrer Hüft-Operation fiel sie für längereZeit aus und wurde im gleichen Jahr bei der Weihnachtsfeier offiziell
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