Vergiss mein nicht (German Edition)
machen. Aber was, wennjetzt noch ›Wahnvorstellungen‹ oder eine ›Atemdepression‹ dazukommen?
Beim Abendessen tischt Malte das hauseigene Schmerzmittel auf: Wodka. Eine polnische Vorgängerin von Gabija hat ein tägliches ›Reinigungsritual‹ zum Essen eingeführt. »Das desinfiziert!«, sagt mein Vater, während er aus der Wodkaflasche in kleine Schnapsgläschen einschenkt. Gabija nennt es: »Drei Tropfen trinken«. Sie bringt uns heute bei, wie man sich auf Litauisch zuprostet; es klingt wie ›Iss-wie-Kater‹. Wir stoßen an, und ich improvisiere einen Trinkspruch: »Iss-wie-Kater und Trink-wie-Katze!« Wir lachen und trinken. Da öffnet Gretel die Augen und sieht sich flehend um: »Oh bitte, oh bitte.« Das lassen wir uns nicht zweimal sagen und geben auch ihr ein Schlückchen von dem ›Wässerchen‹. Gretel nippt daran und verzieht den Mund: »Ui! Das ist unheimlich – das pratzt ja! Schmeckt ganz scharf!« Dann hüstelt sie etwas.
»Oh je, hast du Husten?«, frage ich besorgt.
»Ich? Nee! Jetzt will ich schlafen!«, antwortet sie und bringt uns zum Lachen. Gretels Gesicht hat eine gesunde Rötung bekommen, und sie spricht für ihre Verhältnisse wie ein Wasserfall: »Das macht man davon, davon, davon.« Wir geben ihr sicherheitshalber noch einen Schluck Apfelsaft zum Nachspülen, zu dem sie bemerkt: »Das ist doch gut.«
Mein Vater ist in Hochstimmung, ein solches ›Tischgespräch‹ hat es schon lange nicht mehr gegeben! Auch beim Essen sorgt Gretel für Heiterkeit. Als sie es ablehnt, den Rosenkohl in den Mund zu nehmen, versucht Malte, ihr die kleinen grünen Röschen schmackhaft zu machen: »Sieh mal, die lachen dich an!« Da öffnet Gretel kurz die Augen und wirft einen Blick auf das Kohlgemüse: »Sind die blöd?«
Nach dem Essen öffnet mein Vater zischend zwei Bierflaschen.
»Was macht ihr?«, fragt Gretel neugierig.
»Wir sitzen hier mit dir.«
»Das find’ ich gut.«
Gretel behält rekordverdächtig lange die Augen auf und mustert meinen Vater und mich, als wir unser Bier trinken: »Merkwürdig. Ihr seht euch irgendwie sehr ähnlich.«
Der Abend hat uns optimistisch gestimmt, aber am nächsten Morgen macht Gretel keinen so guten Eindruck mehr. Naja, es ist schließlich auch spät gewesen gestern. Wir lassen sie heute lieber mal länger im Bett – soll sie doch schlafen, bis der Pflegedienst kommt!
Malte und Gabija sind gerade in der Küche dabei, eine Einkaufsliste zu schreiben. Mein Vater verbessert zwar gerne ihre Deutschfehler und versucht, ihr Vokabular zu erweitern, aber er ermutigt sie auch zu kreativen Spracherfindungen. Suppe wird bei uns, seit wir eine weißrussische Pflegekraft hatten, ›Supp-tschik‹ genannt, und Gabija hat inzwischen ›Greteltschik‹ eingeführt – das heißt so viel wie ›Gretelchen‹. Jetzt gibt sie meinem Vater Informationen für die Einkaufsliste: »Äpfel: Keiner da.« Mein Vater nickt bestätigend und blickt in den Kühlschrank: »Butter: Keine da.«
Während mein Vater einkaufen geht, begleite ich Gabija zur Volkshochschule. Sie ist jetzt bald ein halbes Jahr bei uns und Malte hat ihr zum Geburtstag einen Deutschkurs geschenkt, für den sie einen Einstufungstest machen muss. Ich soll ihr dabei als Dolmetscher zur Seite stehen und die Anmeldung erledigen. Gabija ist schon die sechste Pflegekraft, die meinem Vater offiziell als ›Haushaltshilfe‹ über eine Agentur vermittelt wurde. Die anderen osteuropäischen Frauen waren auch schon eine große Hilfe gewesen, sie hatten aber alle noch kleine Kinder in ihrer osteuropäischen Heimat und blieben nie länger als drei Monate am Stück. Gabijas Sohn ist schonerwachsen und wie sie hat noch keine meine Mutter ins Herz geschlossen. Sie möchte am liebsten in Deutschland bleiben. Hier gibt es viele alte Menschen, um die man sich kümmern muss. »Kleine Kinder lieben alle«, sagt sie, »aber alte Mensche brauchen viel Liebe!«
Beim Test in der Volkshochschule schneidet Gabija erstaunlich gut ab und wird nicht mehr als Anfängerin eingestuft.
Auf dem Rückweg erzählt sie mir gut gelaunt, dass sie bald für ein paar Wochen nach Litauen fahren wolle, um ›Reiki‹-Kurse zu belegen. »Reiki?«, frage ich erstaunt.
»Aber ist keine schwarze Magie!«, versichert sie mir. »Ich machen Reiki-Kurs eins und zwei.« In der ersten Kursstufe erlerne man die Selbstheilung, und durch die zweite Kursstufe erwerbe man die Fähigkeit, auch andere zu heilen. Ich kannte Reiki von einer Esoterik-Messe in
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