Vergiss mein nicht (German Edition)
ausfindig gemacht, und die warmen Schachteln duften vielversprechend in meinen Händen, als ich mich auf den Rückweg mache.
Während ich die Straße zu unserem Haus herunterkomme, fällt mir ein Mann auf, der auf der Straße steht. Beim Näherkommen erkenne ich meinen Vater, der vor unserer Haustür ungeduldig auf etwas zu warten scheint. Bin ich schon so spät? Will er gleich mit mir ins Auto springen, um zum Tischtennis zu fahren? Er scheint mich gar nicht wahrzunehmen, und auch als ich nur noch wenige Meter von ihm entfernt bin, nimmt er keine Notiz von mir, hält nach irgendetwas Ausschau. Schon fast vor seiner Nase angelangt, frage ich: »Was ist denn los?«
»Ich habe einen Rettungswagen gerufen, Gretel ist dabei, zu ersticken.«
Ich laufe mit den Pizzen, die jetzt nur noch nervige heiße Pappschachteln in meinen Händen sind, an ihm vorbei durch die offene Haustür und haste nach oben. Gretel liegt röchelnd auf ihrem Bett, ihr Körper ist seltsam gekrümmt. Gabija sitzt neben ihr und weint vor Entsetzen.
»Tut mir leid! Tut mir leid! Nicht meine Schuld, nicht meine Schuld!«, ruft sie mir entgegen. Ich stelle entgeistert die Pizzaschachteln in der Küche ab und gehe zu meiner Mutter, beuge mich über ihren bebenden Körper. Neben ihrem Mund liegt etwas Schaumiges, das Erbrochenes sein könnte. Ich spreche sie an, rüttele an ihrer Schulter, doch sie reagiert nicht, keucht und röchelt unregelmäßig und schnell. Irgendetwas muss sofort geschehen, sonst ist es zu spät!
Zum Glück rücken in dem Moment die Rettungskräfte an, gefolgt von meinem Vater. Die drei stämmigen Kerle sondieren die Lage, einer trägt den schweren Defibrillator.
»Was ist passiert?«, fragt der Sanitäter.
»Wir haben ihr zum Nachtisch Joghurt gegeben«, berichtet mein Vater, »und dann hat sie plötzlich angefangen zu husten, lief blau an und würgte Schleim hervor. Ich dachte, sie erstickt jeden Moment.«
»Welche Vorerkrankungen bestehen?« fragt der Rettungsleiter, während er einen kurzen Blick auf Gretels Gesicht wirft.
»Meine Frau ist schwer demenzkrank.«
»Sie hat aspiriert«, folgert der Sanitäter. »Wir nehmen sie mit runter.«
›Aspirieren‹: Was für ein seltsames Wort für ›verschlucken‹, geht es mir durch den Kopf. Ich kannte ›Aspiration‹ bisher nur in der Bedeutung von Hoffnung.
»Wir haben ihr gestern Abend zum ersten Mal ein Fentanyl- Pflaster gegeben«, gebe ich zu Protokoll, während die Rettungshelfer eine Plane auspacken, die sie Gretel als Tragehilfe unterschieben. »Wir hofften, dass es ihr mit dem Schmerzmittel besser gehen würde, aber sie war heute den ganzen Tag sehr geschwächt. Kann das zusammenhängen?«
Der Sanitäter schüttelt den Kopf. Ob als Antwort auf meine Frage oder um zu bedeuten, dass das jetzt nichts zur Sache tue, ist nicht klar. Mit stoischer Miene packen die Rettungskräfte Gretel in eine Plane, die mich unwillkürlich an einen Leichensack erinnert – ist es gleich um sie geschehen? Ich versuche in den Gesichtern der Sanitäter zu lesen, doch es gibt kein Anzeichen, ob wir hoffen dürfen. Für sie ist das hier einfach Routine: Ein weiterer Fall am Samstagabend, wieder hat eine alte Frau ›aspiriert‹. Für die Angehörigen ein Weltuntergang. Für die Rettungsleute business as usual . Jetzt heben die Männer meine Mutter hoch und tragen sie schnellen Schrittes aus der Wohnung. Sie ist auf dem Weg ins Krankenhaus – genau das, was wir unbedingt hatten vermeiden wollen. Aber was hätte man anderes tun können? Man konnte Gretel ja nicht ersticken lassen!
»Ich konnte den Hausarzt nicht erreichen«, berichtet mein Vater. In seiner Not rief er einen Rettungswagen. »Gabija versuchte ihr mit einem Küchentuch, den Schleim aus dem Rachenzu entfernen, aber Gretel verbiss sich darin und keuchte: ›Lasst mich, lasst mich.‹ Ich dachte: Gleich ist es um sie geschehen.« Meinem armen Vater bleibt nichts erspart! Neben der Erstickungsgefahr birgt eine Aspiration auch das Risiko, dass durch Fremdkörper, die in die Bronchien gelangen, eine Lungenentzündung entsteht. Das war immer Maltes große Sorge gewesen: »Dann ist sie erledigt.«
Auf der Straße vor unserer Haustür legen die Rettungsleute meine Mutter auf eine Liege, die sie in den Einsatzwagen schieben. Das Blaulicht wirft ein gespenstisches Licht auf den Schauplatz, als mein Vater und ich vor die Tür treten. Es hat sich schon ein kleiner Autostau gebildet. Mein Vater fragt die Sanitäter, ob er mit ins
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