Vergiss mein nicht (German Edition)
Minuten später wieder versuchten, stellte Gretel sich schlafend und murmelte: »Lassen Sie mich in Ruhe! Das ist mein Zimmer.« Der Pfleger sagte daraufhin zu meinem Vater: »Da ist nichts zu machen. Wir können sie ja nicht zwingen«, und so zogen sie nach 20 Minuten unverrichteter Dinge wieder ab. In der strengen Taktung des Pflegealltags, wo in Minuten abgerechnet und kalkuliert wird und ein Therapeut oder Pfleger selten länger als 15 Minuten am Stück Zeit hat, gibt es eigentlich keinen Platz für eine sperrige Demenz. Vor allem, wenn jemand so einen starken Widerwillen entwickelt hat wie meine Mutter.
Mittlerweile ist die Situation aber eine ganz andere: Gretelwehrt sich kaum noch. »Ihr Widerwille ist erloschen«, resümiert mein Vater betrübt. Sie weigert sich jetzt nicht mehr, aber sie hilft auch nicht; das macht die Sache natürlich auch nicht viel einfacher. Jeder, der einmal versucht hat, eine bewusstlose Person zu bewegen, weiß wie schwierig das ist.
Wir fahren Gretel im Rollstuhl aus der Küche in ihr Zimmer zurück und wollen sie wieder ins Bett legen. Ich möchte Gabija zur Hand gehen, doch sie schüttelt energisch den Kopf: »No, no, no! Ich machen alleine.« Sie beugt sich vor, umarmt Gretel, hält sie fest umklammert und richtet sich zusammen mit ihr auf. Was ist mit Gabijas Hexenschuss? Sie ist eine gute Gewichtsklasse leichter als meine Mutter, schafft es aber mit etwas Mühe, sie auf die Beine zu stellen. Gretels Körper ist versteift und ungelenk, ihre Knie sind seltsam zusammengedrückt. Ich stelle rasch den Rollstuhl zur Seite, da kippen die beiden schon zur Seite und verlieren fast das Gleichgewicht. Gabija ruft panisch nach meinem Vater: »Malte, Malte!«, und meint natürlich mich. Ich halte die beiden mit Müh’ und Not fest. Das war knapp! Gabijas Einsatz ist vorbildlich, aber auch gefährlich. Sie neigt dazu, sich in ihrem Eifer zu übernehmen.
Mittags kommt ein Anruf von einer Apotheke: Das Schmerzmittel sei angekommen. Mein Vater erklärt, das Medikament sei schwieriger zu beschaffen gewesen als üblich, da es unter das Betäubungsmittelgesetz falle. Ich mache mich auf den Weg, um das Mittel abzuholen; ich soll auch noch spezielles Dekubitus-Verbandmaterial mitbringen. Mein Vater muss alle Ausgaben vorstrecken, die Rechnungen dann bei der Kasse und der Beihilfe einreichen und hoffen, dass alles erstattet wird. Die sprichwörtlichen ›Apothekenpreise‹ machen ihrem Namen alle Ehre: Zwei winzige Schaumstoffstückchen für die Fersen meiner Mutter kosten 120 Euro! Es heißt ja, dass wir in den letzten Lebensjahren so viel kostenwie im ganzen Leben zuvor. Bisher habe ich gedacht, das liege an der hochtechnisierten Intensivmedizin. Jetzt weiß ich es besser: ›Kleinvieh macht auch Mist‹. Jede Woche werden bei uns jetzt viele hundert Euro allein an Verbandsmaterial verbraucht. Die Apothekerin reicht mir die schmale kleine Packung mit dem Schmerzmittel für 138 Euro. Sie erklärt mir, dass es sich bei dem Wirkstoff Fentanyl um ein synthetisiertes Opiat handle, das in seiner Wirkung Morphium gleiche.
Gretels Behandlung gleicht in vieler Hinsicht einem Blindflug, da man von ihr kein Feedback mehr bekommt. Sie gibt beispielsweise keine Auskunft mehr darüber, ob sie unter Schmerzen leidet. Auch auf ihre Reflexe kann man sich nicht mehr verlassen. Eine der Pflegerinnen erzählt, es sei typisch, dass Demente im fortgeschrittenen Stadium gar nicht mehr wissen, dass sie Schmerzen haben. In einem Pflegeheim sei ihr einmal eine humpelnde Frau aufgefallen, bei der man dann feststellte, dass sie sich tags zuvor den Oberschenkelhals gebrochen hatte. Mit einem schweren Dekubitus gehe auch nicht selten eine erstaunliche Schmerzlosigkeit einher. Schmerzen entstünden vor allem in der Anfangsphase eines Druckgeschwürs. Aber weder der Hausarzt noch mein Onkel können sich vorstellen, dass meine Mutter ganz schmerzfrei sein könnte. Leider lässt sich das ja nicht objektiv messen. Konnten Gretels ständig geschlossenen Augen nicht vielleicht ein Indiz dafür sein, dass sie sich, von Schmerz betäubt, in sich zurückzog? Dr. El-Tarek war jedenfalls der Meinung, ein Schmerzmittel könne Gretel nicht schaden: Vielleicht würde sie, von ihren Qualen befreit, mehr am Leben teilhaben.
Zurück von der Apotheke, studiere ich aufmerksam die Nebenwirkungen des Opioids, die nicht zu knapp sind. Vor ›Gedächtnisausfall‹ und ›Angstzuständen‹ müssen wir uns bei Gretel ja keine allzu großen Sorgen
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