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Vergiss mein nicht (German Edition)

Vergiss mein nicht (German Edition)

Titel: Vergiss mein nicht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Sieveking
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ihrem Dekubitus in einem nassen Bett liegen. Alle vier Stunden soll sie zudem trotz ausgetüftelter Wechseldruckmatratze ›gewendet‹ werden, um weiterem Durchliegen vorzubeugen.
    Um drei Uhr nachts holt mich mein Handy-Wecker aus dem Tiefschlaf. Vom plötzlichen Aufstehen ist mir schwindelig. Wie ein Zombie wanke ich das Treppenhaus herunter. Vor Gretels Zimmer begegnet mir mein Vater in T-Shirt und Unterhose. »Ich dachte, ich mache deine Schicht, und du schläfst«, sage ich verwundert.
    »Ich bin automatisch wach geworden«, murmelt mein Vater.
    »Dann geh’ wieder ins Bett«, sage ich, obwohl ich eigentlich sagen wollte: ›Dann gehe ich wieder ins Bett‹.
    Aber da taucht schon Gabija in einem Bademantel auf, und mein Vater schlurft wieder zurück in sein Zimmer; dabei murmelt er noch: »Vergesst nicht, sie zu wenden.« Was hat er denn gedacht? Dass wir ihr die Haare schneiden?
    Meine Mutter gibt beim Atmen ein gurgelndes Geräusch von sich, als ich vorsichtig nach ihrer Schulter greife, um sie zu mir zu drehen. Sie fängt an zu husten, hält aber die Augen geschlossen. Ich halte sie in den Armen, sodass Gabija das Inkontinenzlaken unter ihrem Rücken auswechseln kann. Da schlägt Gretel die Augen auf, blickt strahlend in mein Gesicht empor und sagt: »Oh wie schön! Was ist denn das da oben?«Ich freue mich: Schon lange habe ich nicht mehr die wachen Augen meiner Mutter gespürt – da hat sich das Aufstehen schon gelohnt! Leider kann ich Gretel nicht lange in dieser Position halten und lege sie wieder ab, wälze sie auf die Seite, damit wir sie umlagern können. Die neue Seitenlage erschreckt Gretel und sie hält sich krampfhaft an mir fest: »Um Gottes Willen!«, stößt sie ängstlich hervor. Sie glaubt wohl, dass ich sie aus dem Bett werfen will, obwohl ich sie doch ganz behutsam behandle und das Pflegebett ein Sicherheitsgeländer hat. »Ist alles gut, keine Sorge, Gretel«, versuche ich sie zu beruhigen und bette sie etwas weniger steil in der Seitenlage. Als ich mich wieder vom Bett aufrichten will, merke ich, das sie sich an meiner Hand festgeklammert hat. Sie umklammert einen mittlerweile meist reflexartig, wenn man ihre Hand hält und löst ihren Griff nicht mehr von selbst. Heute Nacht ist ihr Griff besonders fest. Gabija zeigt mir einen Trick, den sie von den Pflegern gelernt hat. Wenn man nur den kleinen Finger löst und etwas zurückbiegt, öffnet sich der Rest der Hand wie von selbst. Das funktioniert erstaunlich gut, so, als würde man einen Schlüssel benutzen. Zufrieden, meine erste Schicht als ›Nachtpfleger‹ erledigt zu haben, lege ich mich wieder hin und verschlafe meine nächste Frühschicht gleich um mehrere Stunden.
    Als ich am Morgen deutlich verspätet in die Küche komme, steckt mir die Nacht trotzdem noch stark in den Knochen. Gretel ist mit Gabija in der Küche beim Frühstück. Das Telefon klingelt, meine Schwester ist dran und möchte wissen, wie die Nacht verlaufen ist. Ich beklage mich bei ihr, dass es ganz schön anstrengend war. »Dann warte mal ab, bis du Kinder hast«, klärt sie mich auf. »Da ist man in den Nächten ständig wach. Einmal aufstehen ist da noch harmlos.« Ich glaube zwar, dass es psychologisch gesehen schon etwas anderes ist, ein kleines Baby zu windeln, als seine kranke, ängstliche Mutter›trocken zu legen‹. Aber meine Schwester hat eigentlich recht: Beklagen sollte ich mich nicht, sondern die nächtliche Übung als gutes Training fürs Leben betrachten!
    Wenn man Gretel morgens erst einmal gewaschen und angezogen aus dem Bett gebracht hat, sind alle schon mal ganz froh. Leider kann der ambulante Pflegedienst aber immer erst zu einem relativ späten Termin am Vormittag kommen, und so muss Gretel gleich nach dem Frühstück wieder ins Bett gelegt werden. Ihr Dekubitus kann nur in der Horizontalen versorgt werden. Es ist zwar absurd, sie erst mit viel Mühe aus dem Bett zu holen, um sie dann gleich wieder hinzulegen, aber Gretel hat es ja zum Glück dann sowieso wieder vergessen.
    Mein Vater ist schon froh, dass es mit dem Pflegedienst überhaupt einigermaßen klappt. Vor einem guten Jahr hatte er schon mal einen Vorstoß gemacht und ein Team bestellt, das Gretel versorgen sollte. Sie kamen dann eines Morgens zu meiner Mutter ans Bett und baten sie, aufzustehen. Gretel dachte aber gar nicht daran und fragte die Fremden: »Wer sind Sie denn?« Der Pfleger und sein Helfer stellten sich bei ihr vor, aber sie blieb abweisend. Als die beiden es ein paar

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