Vergiss mein nicht (German Edition)
Berlin, die ich einmal zu Recherchezwecken besucht hatte. Dort hielt mir eine japanische Heilerin ihre Hand vor die Stirn, aber anstatt positive Energie zu spüren, verspürte ich vor allem eine starke Ungeduld.
Während ihre polnischen Vorgängerinnen alle katholisch gewesen und jeden Sonntag schick angezogen in die Kirche gegangen waren, hatten die Pflegerinnen aus Litauen eher neureligiös-esoterische Vorlieben. Valentia, die erste Pflegerin aus Litauen, die vergangenen Sommer für drei Monate bei uns war, wollte meinen Vater und mich von der universellen Weisheit der ›Kabbala‹ überzeugen, die auch Nichtjuden offenstehe: »Nix Religion, ist Wissenschaft!« Die zweite litauische Pflegerin las begeistert die russische Buchreihe Anastasia – Tochter der Taiga , in der eine sibirische Heiligenfigur beschrieben wird, nach deren Vorbild der Leser möglichst an den Busen der Natur zurückkehren solle.
Gabijas spirituelles Interesse ist deutlich auf Heilmethoden ausgerichtet. Sie studiert auch Bücher über Chakren undMeridiane, um die Energiebahnen im Körper besser zu verstehen. »Gretels Kopf krank. Wenn Kopf wieder gesund, alles kommt wieder gut«, folgert sie, und mir wird klar, dass sie nicht wie ich auf eine gewisse Verbesserung von Gretels Zustand hofft, sondern wirklich an eine Heilung glaubt! Die bloße Vorstellung treibt mir die Tränen in die Augen: Ist es nicht besser, an Wunder zu glauben, als mit dem hoffnungslosen Wissen der Vernunft zu leben?
Gretel ist auch mittags noch müde und weggetreten, kein Vergleich zu gestern. Sie macht leider nicht den Eindruck, als ließe die Schmerzlinderung durch das Medikament sie aufleben. Ist ihre Schlaffheit auf das Fentanyl-Pflaster zurückzuführen oder einfach ein kleines Formtief nach dem langen ereignisreichen Tag gestern?
Eigentlich will ich morgen wieder nach Berlin zurückfahren, um meinen Film fertigzustellen. Aber ist die Geschichte überhaupt zu Ende erzählt? Es ist seltsam, an einem Dokumentarfilm über die eigene Mutter zu arbeiten und dabei ihre Veränderung sozusagen einzufrieren, während sich ihr Zustand in Wirklichkeit laufend weiter verschlechtert. Musste ich die jüngste Entwicklung nicht auch noch berücksichtigen?
Ich schiebe diese Gedanken zur Seite: Ich will nicht mehr drehen – besonders nicht, wenn es Gretel so schlecht geht. Und ich habe die Hoffnung nicht aufgegeben, den Film fertigzustellen, solange meine Mutter noch am Leben ist! Doch mit Plänen ist es so eine Sache, wenn man es mit einer Demenz zu tun hat. Man neigt dazu, der Realität hinterherzuhinken. Was ist aus all unseren Umzugs- und behindertengerechten Umbauplänen geworden? Sie haben sich bei Gretels jetzigem Zustand sowieso erübrigt.Nachmittags fahre ich mit meinem Vater in ein Sanitätshaus, um nach einem geeigneteren Pflegebett Ausschau zu halten. Es findet sich auch ein Bett, das man tief genug herunterfahren kann und das deutlich billiger wäre als der ›Porsche‹ zu Hause, der dort für über zweitausend Euro zur Miete steht. Das geeignetere Bett wäre in der Anschaffung sogar billiger als die zweijährige Miete, aber die Kosten müsste mein Vater selbst tragen, da der Hersteller kein Vertragspartner der Pflegekasse ist.
Wir erkundigen uns auch nach einem höhenverstellbaren Pflegesessel und eine Verkäuferin präsentiert uns ein Dreitausend-Euro-Modell. Sie erklärt auch, dass ein solcher Sessel grundsätzlich nicht von der Kasse übernommen werde und wir fragen uns, ob sich eine derartige Investition überhaupt noch lohnt. Wer weiß, ob das Ding wirklich so nützlich für Gretel wäre – wir haben es mit dem 100-Euro-Sessel von IKEA ja bisher auch geschafft. Gretel hätte bestimmt gesagt: »Ach, lasst doch den Quatsch, ist doch viel zu teuer!« Außerdem stellte sich uns die Frage: ›Wie lange brauchen wir diese Sachen überhaupt noch?‹ Mein Vater hat sich angewöhnt, in kleinen Etappenzielen zu denken. Zu weit lässt er seine Gedanken nicht in die Zukunft schweifen, das stimmt nur traurig.
Eine Sache, die meinen Vater garantiert auf andere Gedanken bringt, ist Tischtennis. Er spielt sehr gerne, aber in dem Verein, dem er beigetreten ist, findet sich nicht immer ein geeigneter Spielpartner. Oft muss er einige Zeit beim Training auf der Bank verbringen. Umso mehr freut er sich, dass ich ihn heute Abend begleiten möchte. Vorher hole ich noch schnell eine Pizza aus der Stadt, da heute keiner Lust hat, zu kochen. Ich habe eine leckere Steinofenpizzeria
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