Vergiss mein nicht (German Edition)
Krankenhaus fahren kann. »Das ist nicht nötig«, wird ihm gesagt. Er solle sich in einer Stunde im Krankenhaus melden.
»Letztes Mal konnte ich mitfahren«, wundert sich mein Vater. Wir erwarten quietschende Reifen und eine rasante Abfahrt, doch die Ambulanz bleibt stehen. Bald stauen sich die Autos schon um die nächste Kurve herum. Der Rettungswagen fährt und fährt einfach nicht los! Jetzt kommt auch Gabija die Treppe herunter vor die Tür. Sie weint und wimmert: »Nicht meine Schuld, nicht meine Schuld!« Ich schüttele den Kopf und lege ihr meine Hand auf die Schulter. »Du kannst nichts dafür. Wirklich nicht.« Sie faltet die Hände wie zum Gebet: »Bitte, bitte, bitte!«, und blickt nach oben, als könnte sie Gott persönlich dazu bewegen, noch einmal ein Auge zuzudrücken.
Die Minuten verstreichen, in denen der Krankenwagen weiter unbeweglich vor unserer Haustür steht und sein blaurotes Licht über unsere Gesichter streichen lässt. Versucht man da drinnen gerade verzweifelt, Gretel zu reanimieren? Kann man das nicht während der Fahrt machen? Ich stelle mir vor, wie sie gleich das Blaulicht abschalten, wie sie herauskommen,keine Eile mehr zeigen. Ein Horrorbild: Rettungskräfte, die ruhig und gelassen an einem Unfallort ihre Sachen einpacken. Sie haben ihre Arbeit eingestellt, denn jede Hilfe ist zu spät.
Nach einer gefühlten Ewigkeit, die wahrscheinlich nur fünf Minuten dauerte, öffnet sich die Tür des Rettungswagens. Mir sackt das Herz in die Hose: Der Sanitäter wirkt schrecklich gelassen. Ist es aus? Mein Vater geht auf ihn zu und darf kurz noch einen Blick hinten in den Wagen werfen. Soll er sich von seiner Frau verabschieden? Mein Herz schlägt wild, als ich näher an den Wagen herangehe. Doch Gott sei Dank ist mein Vater beruhigt: »Sie sagen, sie schwebt nicht mehr in akuter Lebensgefahr. Sie haben ihr einiges aus der Lunge abgesaugt und sie einigermaßen stabilisiert. Ihr Atem ist ruhiger, das habe ich gesehen. Sie wird jetzt zur Notaufnahme gefahren.«
Hinter ihm setzt sich endlich der Rettungswagen in Bewegung. Durch Gretels ›Aspiration‹ geht nun also unsere Hoffnung dahin, sie vor dem Krankenhaus zu bewahren.
Kapitel 10
Im kranken Haus
»Es sieht nicht gut aus mit Ihrer Mutter, Herr Sieveking«, erklärt die Ärztin aus der Intensivstation, eine Stunde nach Gretels Einlieferung, meinem Vater am Telefon, der in seiner Aufregung ganz versäumt, sie darauf hinzuweisen, dass es um seine Frau geht und nicht um seine Mutter. »Sie hat eine Herzinsuffizienz mit Vorhofflimmern. Wir versuchen, ihren Zustand mit Medikamenten zu stabilisieren.« Die Ärztin ist freundlich, nimmt aber kein Blatt vor den Mund und fragt meinen Vater, welche medizinischen Maßnahmen denn überhaupt noch gewünscht seien. Ich höre das Gespräch über Lautsprecher mit und spüre auf einmal das schwere Gewicht der Verantwortung, die in unseren Händen liegt. »Meine Kinder und ich sind der Meinung, dass sie am besten bei uns zu Hause aufgehoben ist, wenn es zu Ende geht«, umreißt mein Vater tapfer unseren Haltung, ohne die Frage wirklich zu beantworten. Er hat von Gretels Generalvollmacht uns Kindern Untervollmachten ausstellen lassen. Er will, was sie betrifft, keine schwerwiegende Entscheidung allein treffen.
Auf dem Weg ins Krankenhaus gehen mein Vater und ich schweigend den ›Schulberg‹ hinunter, der von unserem ›Mühlberg‹ in Richtung Krankenhaus führt. Das Hospital liegt gleich hinter meiner ehemaligen Grundschule. Wir laufen also auf meinem ehemaligen Schulweg. Ich erinnere mich, wie meine Mutter mich nach der Einschulung eine Zeit langmit ihrem Fahrrad zum Unterricht kutschierte. Ich saß in einem Römer -Fahrradkindersitz auf ihrem Gepäckträger und fühlte mich wie ein kleiner Kaiser, dem niemand etwas anhaben konnte. Gretel war eine überzeugte Radfahrerin und überredete meinen Vater nicht nur aus der Kirche auszutreten, sondern auch dem ADAC den Rücken zu kehren. Stattdessen wurden wir Mitglied im VCD, dem alternativen ›Verkehrsclub Deutschland‹ der sich speziell für Fahrradfahren und Elektromobilität stark macht. Gretel war auch immer auf dem Laufenden, was Verbraucherschutz betraf und las stets die ›Stiftung Warentest‹-Magazine. Sie fand für uns heraus, welche Kranken-, Haft- und Hausratversicherung gerade gut und günstig waren. Besonders in Gesundheitsfragen hatten sich mein Vater und ich immer auf Gretel verlassen. Und jetzt sollten wir auf einmal für sie
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