Vergiss mein nicht (German Edition)
Monate geliehen – für einen kürzeren Zeitraum wird es nicht angeboten. Die Pflegekasse scheint sich weniger Sorgen um Gretels nahe Zukunft zu machen als wir.
»Ich bin ja froh, dass wir es ganz gut hinkriegen«, sagt mein Vater. »Ich kaufe ein, koche und assistiere Gabija bei der körperlichen Grundpflege. Mehr schaffe ich nicht – ich will jaauch noch Mathe machen. Das klappt eigentlich ganz gut. Ungünstig ist es, wenn wir beide schlecht drauf sind, sonst kann ja immer der eine den anderen aufmuntern.« Einen Moment lang blicken mein Vater und ich auf die sinnlos vor sich hin arbeitende Wechseldruckmatratze in Gretels leerem Pflegebett. »Pffft« tönt es aus den Luftkammern, die sich aufblasen und wieder entleeren. Unter dem Bett arbeitet beständig brummend ein Kompressor. »Jeden Morgen kommt der ambulante Pflegedienst, um die Dekubitus-Wunde zu versorgen«, fährt mein Vater fort. »Am Freitag habe ich mich ganz schön über eine dieser Schwestern geärgert. Sie fragte mich, ob mir eigentlich klar sei, dass Demente am Ende verhungern und verdursten. Mich ärgerte das, und ich sagte ihr: ›Ich lasse meine Frau hier natürlich nicht verhungern!‹«
»Wieso, hat die Schwester denn sowas gesagt?«, frage ich nach.
»Sie arbeitet in einem Sterbehospiz und spricht offenbar aus Erfahrung. Das Problem mit den Dementen ist, dass sie mit der Zeit nicht nur vergessen, wie man spricht und wie man aufs Klo geht, sondern irgendwann auch nicht mehr wissen, wie man kaut und schluckt. Zum Glück geht das jetzt noch einigermaßen bei Gretel. Aber es wird immer schwieriger.«
Wir gehen wieder hinüber zu Gretel ins Wohnzimmer, wo sie vor dem Fernseher sitzt. Die Nachrichten laufen, aber sie hat die Augen geschlossen, und es sieht nicht so aus, als bekomme sie irgendetwas davon mit. »Der Verfassungsschutz beobachtet nach ›Spiegel‹-Informationen 27 Bundestagsabgeordnete der Linken«, tönt es von der Mattscheibe, und mir schnürt es das Herz zu, wenn ich daran denke, dass sich Gretel als treue ›Spiegel‹-Leserin früher bestimmt brennend für diese Nachrichten interessiert hätte. »BundespräsidentChristian Wulff«, konstatiert der Nachrichtensprecher, »hat die Vorwürfe gegen seine frühere niedersächsische Landesregierung als ›ernsten Vorgang‹ bezeichnet, sieht aber keine eigenen Versäumnisse.« Da schlägt Gretel plötzlich die Augen auf und kommentiert: »Ach Quatsch!«
Während wir den munteren Moment nutzen, um Gretel in ihren Rollstuhl zu setzen, erzählt mein Vater weiter vom Pflegealltag: »Piotr, der Krankengymnast, war neulich mal wieder da. Der spricht Gretel dann laut und fordernd an, und sie gehorcht ihm quasi. Ich finde diesen Befehlston nicht so schön, aber die gehen dann tatsächlich zusammen ins Treppenhaus, ein paar Stufen hoch und wieder runter. Das ist beeindruckend, wenn man bedenkt, wie schwer sie sich sonst tut. Aber Piotr kommt nur ein-, zweimal die Woche und höchstens für zwanzig Minuten. Oft geht dann in dieser kurzen Zeit gar nichts. Und Gretels geistige Animation fällt sowieso mehr oder weniger unter den Tisch.«
Vor dem Schlafengehen versuche ich Gretel noch ›geistig zu animieren‹. Ich bin etwas betrübt, da sie seit meiner Ankunft noch keine Reaktion auf mich gezeigt hat. Ich hole ihre alte Gitarre, auf der sie mir früher einmal die ersten Griffe gezeigt hat, und setze mich neben sie, um ihr etwas vorzuspielen. Ich habe angefangen, mir Suzanne von Leonard Cohen beizubringen, ein Lied, das Gretel früher auch selber gespielt hat. Doch meine schöne Zupfbegleitung scheint sie nicht zu interessieren oder derart friedlich zu stimmen, dass sie sogleich tief und fest einschläft. Beim zweiten Refrain droht sie schon zur Seite abzusacken. Ich probiere etwas Schnelleres, von den Beatles. Doch bei A Hard Days Night gerät Gretel vollends in Schieflage. Ich stelle die Gitarre zur Seite, um Gretel wieder aufzurichten. Dabei öffnet sie kurz die Augen,doch sie scheint nichts wahrzunehmen. Ich versuche mit einem kleinen blauen Gummiball ihre Aufmerksamkeit zu erregen und lege ihn in ihre Hände – doch vergeblich. Sie hält ihn nicht fest, er plumpst auf den Boden und kullert betrübt in eine Ecke.
Heute übernehme ich Maltes ›Nachtschicht‹, um zusammen mit Gabija meine Mutter zu versorgen. Wegen ihres wunden Rückens darf sie momentan keine geschlossenen Windeln tragen, und so muss ihre Inkontinenz-Bettwäsche ständig erneuert werden. Auf keinen Fall darf sie mit
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