Vergiss mein nicht (German Edition)
schwerwiegende medizinische Entscheidungen fällen? Verkehrte Welt! Ein bisschen hatte ich auf dem Weg das Gefühl, mein Vater sei eigentlich mein älterer Bruder, dem genau wie mir seine verantwortungsvolle Mutter fehlte, die er jetzt im Krankenhaus besuchen wollte. Vielleicht hatte die Ärztin am Telefon gar nicht so unrecht gehabt, als sie Maltes Frau mit seiner Mutter verwechselte.
Als wir den Notaufnahmebereich des Spitals betreten, fällt mir ein, dass auch ich schon einmal Gefahr gelaufen war, zu ersticken, und damals genau hier behandelt worden war. Ich hatte als Grundschüler in mein von Mami liebevoll geschmiertes Nutella-Pausenbrot gebissen und übersehen, dass auch eine Wespe Gefallen an dem süßen Aufstrich gefunden hatte. Ob die Wespe überlebte, ist nicht überliefert, aber sicher ist, dass mein Hals von ihrem Stich blitzschnell anschwoll und ich keine Luft mehr bekam. Ganz ähnlich wie Gretel vorhin beim Abendessen. Ich wurde damals direkt vom Pausenhof hierher ins Krankenhaus gebracht undbekam eine Spritze, die den Stich abschwellen ließ. Hoffentlich gibt es für meine Mutter heute eine ähnlich wirkungsvolle Behandlung!
»Wir haben sie stabilisiert«, erklärt uns ein junger Assistenzarzt im weißen Kittel, der uns zum Angehörigengespräch im Wartebereich der Intensivstation trifft. »Sie liegt jetzt auf der Überwachungsstation, wo wir sie im Auge behalten können.« Er fragt nach Gretels medizinischer Vorgeschichte und macht sich Notizen.
»Soll sie denn im Notfall noch reanimiert werden?«, stellt er wieder so eine quälende Frage. Wir möchten von ihm wissen, was das genau bedeuten würde. »Nun ja, eine Reanimation kann unter Umständen zu einem künstlichen Koma führen. Dann wird die Beatmung zunächst durch einen Schlauch ›intubiert‹, nach einer Woche geht man dann lieber direkt durch die Luftröhre. Das Problem ist, dass man jemanden nicht so ohne Weiteres wieder von den Schläuchen abnehmen kann.«
Malte und ich sind uns einig: Es ist im Sinne Gretels und auch in unserem, sie im Zweifel nicht mehr zu reanimieren. Der Arzt nickt. »Und wie sieht es mit der Ernährung aus? Momentan kann sie gut per Infusion ernährt werden, aber wenn sie weiterhin beim Essen aspiriert, müsste man über eine Magensonde nachdenken.«
Wie soll man so etwas entscheiden, ohne Gretel zu fragen? Damals, als ich nach dem Wespenstich hier eingeliefert worden war, gab es für meine Mutter keine Wahl: Ein Kind war dabei, zu ersticken, und den Ärzten war klar, was zu tun war. Diesmal ist alles nicht so eindeutig. Der Arzt blickt in unsere ratlosen Gesichter. »Das müssen Sie ja nicht alles heute Nacht entscheiden. Aber Sie sollten sich überlegen, unter welchen Bedingungen Sie sie gehen lassen möchten. Manchmal ist ein Ende mit Schrecken besser als ein Schrecken ohne Ende.«Als wir den Raum der Überwachungsstation betreten, in dem Gretel liegt, habe ich das Gefühl, dass wir sie schon sehr weit haben ›gehen‹ lassen. Sie ruht auf einer Liege, umgeben von medizinischen Hightech-Geräten, und hängt an allerlei Schläuchen. Eine Infusion geht in den Arm, ein kleiner Schlauch kommt aus ihrem Finger. Über ihr Gesicht ist eine Sauerstoffmaske gespannt, die von einem brodelnden Gerät hinter ihrem Bett gespeist wird. Unter der Maske atmet sie heftig und schnell, immer wieder unterbrochen von Husten und Räuspern. Sie kämpft sichtlich. Auf Bildschirmen zeichnen sich Kurven ab, Zahlen verändern sich laufend, Werte steigen und fallen. Es sieht ein bisschen aus wie an der Börse. Die Kürzel ›Resp.‹ und ›HF‹ blinken, die ich als ›Respiration‹ und ›Herzfrequenz‹ interpretiere. Während Gretel mir sehr elend erscheint, findet Malte, dass sie wieder besser aussieht. »Sie hat so rosige Wangen«, flüstert er, nimmt ihre Hand und streichelt ihr Gesicht: »Oh, Gretel. Meine Gretel.«
Sie hält die Augen geschlossen, aber plötzlich steigen und fallen die bisher nur leicht schwankenden Werte auf dem Bildschirm turbulent. Eine Kurve zuckt wild umher, die Herzfrequenz steigt deutlich. Malte lässt Gretels Hand wieder los. Prompt beruhigen sich die Werte. Für ihn ist das ein Zeichen unguter Aufregung, die seine Gegenwart bei ihr auslöst. Ich interpretiere die starke Reaktion eher als Gretels Freude über seine Zuwendung – ihr Herz hat wohl kleine Sprünge gemacht! Auf jeden Fall steckt noch einiges an Leben in ihr, da hat mein Vater ganz recht. Befriedigt registriere ich, wie ihr
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