Vergiss mein nicht (German Edition)
vor und nach Patientenkontakt durchzusetzen.
Doch wie sich bald herausstellt, gibt es noch viel gravierendere Nachlässigkeiten auf unserer Station. Meine Schwester bemerkt abends, dass es aus Gretels Tropf auf den Boden ›tropft‹. Am nächsten Morgen fällt mir auf, dass Gretels Bettdecke ganz nass ist, und ich stelle fest, dass der Schlauch schon wieder leckt. Ich rufe einen Pfleger, der einen kleinen Plastikhahn am Anschlussstück des Infusionsbeutels zudreht. Warum er offengestanden und verhindert hat, dass die Lösung wie vorgesehen fließen kann, weiß er nicht: »Bei der Antibiotikaflasche funktioniert es genau umgekehrt wie bei der Nährlösung, da muss der Hahn geöffnet sein. Keine Ahnung, wer hier so was macht.«
Meinem Vater fallen in den ersten Nächten große Lücken im Bewegungsplan auf. Auf der Überwachungsstation unten in der Intensivabteilung war sie noch alle zwei Stunden umgelagert worden, um zu verhindern, dass sie weiter durchliegt. Hier auf der Normalstation sollte das tagsüber alle drei und nachts alle vier Stunden passieren, doch den Eintragungen zufolge hat man sie einmal für sechs Stunden auf einer Seite liegen lassen. Angeblich habe man nur vergessen, die Liste zu führen, doch als wir nachvollziehen, in welcher Richtung Gretel dann hätte gewendet sein müssen, bestätigt sich unser anfänglicher Verdacht.
Besonders problematisch ist der lähmende Kompetenz-Dschungel. Wenn es beispielsweise nachts im Zimmer unangenehm riecht, kann man nicht einfach ein Fenster öffnen,denn nur eine bestimmte Schwester verfügt über einen Fensterschlüssel und bewacht ihn wie ihren Augapfel. Und meistens ist diese ›Wächterin des Schlüssels‹ gerade irgendwo unterwegs, so dass man im Zimmer lange auf frische Luft warten kann.
Die Logopädin, die Gretels Schluckfähigkeit prüfen soll, lässt sich in der ersten Woche nicht blicken, stattdessen probiert eine Krankenschwester auf eigene Faust, Gretel Joghurt zu verabreichen. Prompt verschluckt sie sich wieder, und man muss den Joghurt absaugen.
Tags darauf erscheint statt der Logopädin eine junge, blonde Ergotherapeutin. Als Gretel nicht auf ihre Ansprache reagiert, versucht sie sanft ihren Arm zu strecken und fragt: »Ist Ihre Großmutter immer so abwesend?«
»Meine Mutter ist meistens so abwesend, das heißt aber nicht, dass sie schläft.« Wie auf Kommando zieht Gretel daraufhin ihren Arm aus den Händen der Therapeutin zurück. »Aua! Ich hab’ Angst!«, sagt sie mit geschlossenen Augen.
Ich gehe der Therapeutin zur Hand und streichele Gretel beruhigend. »Keine Angst, Gretel. Das ist eine kostenlose Massage.«
Da öffnet sie die Augen, blickt die Therapeutin an und bemerkt lächelnd: »Die ist aber goldig!«, und lässt uns ohne weitere Gegenwehr ihre Arme beugen und strecken. Gretels Gliedmaßen sind dennoch extrem verkrampft, die Hände stark abgeknickt, beinahe spastisch. Bei dem sogenannten ›Durchbewegen‹ spüre ich, dass der Körper meiner Mutter völlig verhärtet ist – die Muskeln ihrer Schultern fühlen sich beinahe wie Knochen an. »Streicheln und bewegen tut ihr gut«, ermuntert mich die Therapeutin – und hat natürlich vollkommen recht! Warum haben wir bisher nicht daran gedacht, mal ihre Gliedmaßen zu bewegen? Es gibt zwar einen›Bewegungsplan‹, aber der dokumentiert lediglich das Umlagern von der einen auf die andere Seite, Arme und Beine hat man nicht beachtet und sich auf den Krankengymnasten verlassen, der aber bisher noch nicht aufgetaucht ist. Ich spüre, wie Gretel sich durch das Bewegungsprogramm langsam etwas entspannt. Als ihre Arme ›durchbewegt‹ sind, sage ich zu ihr: »Jetzt beweg mal deinen Fuß. Kannst du das?«
Und zur Therapeutin gewendet: »Wollen wir das auch einmal probieren?«
Doch die Bewegungsexpertin schüttelt den Kopf: »Das macht der Krankengymnast.«
Ich kann es kaum fassen, aber als Ergotherapeutin fühlt sie sich nur für Arme, Hände und Oberkörper zuständig. Ich verkneife es mir, nach einem ›Zeh-Therapeuten‹ oder einem ›Ohrologen‹ zu fragen und bemerke lediglich, dass man einen Physiotherapeuten hier leider noch nicht gesichtet habe. »Nein?«, wundert sie sich. »Seltsam, er kommt doch eigentlich täglich zu den Patienten. Ich werde gleich einmal nachfragen.« Gerade, als sie gehen will, fällt mein Blick auf den leeren Infusionsbeutel, der an Gretels Tropf hängt und schon längst hätte ausgewechselt werden müssen. »Und wie sieht es mit Schlucken und Essen
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