Vergiss mein nicht (German Edition)
Sauerstoffgehalt im Blut von 97 % auf 99 % ansteigt. Die Börse schließt an diesem Abend überraschend positiv!
Hoffnungsvoll finden mein Vater, Gabija und ich uns am nächsten Tag wieder in der Intensivstation ein. Gretel braucht keine Beatmungsmaske mehr, sondern lediglich eine kleine›Sauerstoffbrille‹. Sie ist aber wieder nicht ansprechbar. Ein Pfleger erklärt uns, dass Gretel eine schwere Lungenentzündung hat und zeigt auf das Absauggerät hinter ihrem Bett, dessen milchtütengroßer Behälter fast voll ist von einem gelbroten Sekret. »Wir haben versucht, sie oral zu ernähren«, berichtet er, »aber sie hat nicht richtig geschluckt und nur gehustet.«
Er lässt uns nach dieser kurzen Aufklärung wieder allein, und mein Vater ist wie vom Blitz gerührt. »Das ist das Ende«, sagt er kreidebleich und lässt sich auf einen Stuhl sacken.
Ich stehe ratlos herum, bis sich meine jüngere Schwester meldet und ich sie vom Wartebereich durch die Intensivstation zu uns in die ›Überwachung‹ lotse. Sie bricht beim Anblick von Gretels hilflosem Zustand sofort in Tränen aus. Gabija geht ihr entgegen und beginnt ebenfalls zu weinen: »Nicht meine Schuld! Nicht meine Schuld!« Die beiden umarmen sich einen Moment, bis endlich auch mir und meinem Vater die Tränen kommen und wir alle zusammenrücken. Wir liegen uns eine Weile in den Armen, bis wir uns ausgeheult haben. Gretel reagiert nicht. Nicht, als wir sanft auf sie einreden, und auch nicht auf Berührung. Wird sie überhaupt noch einmal wieder die Augen aufschlagen? Immerhin hat der Pfleger gerade berichtet, dass er versucht hat, ihr etwas zu essen zu geben. Dafür muss sie doch bei Bewusstsein gewesen sein! Meine Schwester inspiziert das Pflegeprotokoll, das auf einer Arbeitsfläche neben dem Bett liegt, und entdeckt den Eintrag: ›Patient sehr eigenwillig‹. Das klingt ganz nach unserer Gretel und macht uns Mut. Ich probiere es zum Spaß mit einem autoritären ›Pfleger-Tonfall‹ bei Gretel, rüttle sie leicht an der Schulter und spreche sie wie bei einer ärztlichen Visite an: »Frau Sieveking?« Worauf sie folgsam die Augen öffnet und antwortet: »Ja, hier bin ich« – und uns zum Lachen bringt!Am nächsten Tag hat sich Gretels Zustand weiter verbessert, und sie wird auf eine ›Normalstation‹ verlegt – doch die Situation bleibt auch dort ›intensiv‹. Sie muss sich ihr Zimmer mit zwei anderen deutlich älteren Frauen teilen. Die eine ist am ganzen Körper grün und blau, während die andere ständig hustet – es riecht unangenehm: Willkommen in der Geriatrie! Gretels neue Bettnachbarinnen sind chronisch unterversorgt und bekommen wenig oder gar keinen Besuch, so dass wir ständig damit beschäftigt sind, den alten Damen etwas zu trinken anzureichen oder ihnen gut zuzusprechen. Gabija ist voll in ihrem Element und kann endlich einmal ihre volle Leistungsfähigkeit als Altenpflegerin zeigen.
Und Gretel? »Ihre Entzündungswerte sind zurückgegangen«, erläutert uns eine Assistenzärztin. »Wir hoffen, dass sich durch die Herzinsuffizienz kein Lungenödem gebildet hat.« Bis sich Gretel weiter stabilisiert habe, werde man ihr die Sauerstoffbrille nicht abnehmen. Wir fragen, ob wir versuchen dürfen, sie zu füttern, und die Ärztin verspricht, dass eine Logopädin kommen werde, um festzustellen, ob Gretel richtig schlucke. Wenn ja, könnten wir gerne helfen, sie zu füttern, da die Schwestern und Pfleger viel zu wenig Zeit hätten, sie ausreichend durch den Mund zu ernähren.
Wir hoffen, Gretel so bald wie möglich ohne ›Schläuche‹ nach Haus zu holen, doch mein Vater zweifelt, ob es mit ihr noch einmal bergauf gehen wird. Wie soll man bei so viel Krankheit, die einen hier umgibt, auch wieder gesund werden? Malte weist mich auf ein Plakat hin, das unübersehbar gegenüber den Aufzügen am Eingang der Station hängt und aussieht wie Werbung für einen Kinderzirkus. Darauf ist eine farbig bekleckste Hand abgebildet, über der in bunten Lettern steht: ›Aktion saubere Hände‹ mit Hinweis auf eine Website zur Aufklärung über Hygienegrundsätze. »Diese gefährlichen antibiotika-resistenten Keime«, kommentiert mein Vater denAufruf, »die sich in Krankenhäusern bilden und vor denen uns mein Bruder gewarnt hat, werden gar nicht von den Patienten übertragen, sondern vor allem vom Personal.« An dem bunten Poster irritiert mich vor allem, dass es überhaupt einer Kampagne bedarf, um so selbstverständliche Hygieneregeln wie Händewaschen
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