Vergiss mein nicht (German Edition)
aus?«, rufe ich ihr hinterher. »Das macht doch die Logopädin, oder?«
»Ach? Die Kollegin wusste noch gar nicht, dass sie hier gebraucht wird. Ich sage Bescheid.« Doch vor Logopädin oder Krankengymnast kommt erst einmal das Wochenende.
Am Samstagmorgen liegt bei meiner Mutter zum Frühstück ein Wurstbrot auf einem Teller, daneben ein Tablettendöschen. Es wirkt wie ein stummer Vorwurf, da sie ja per Infusion ernährt wird.
Das absurde Theater im Krankenhaus geht mit der Wochenend-Visite weiter, die ein Arzt durchführt, der Gretel noch nicht kennt und auch gar nicht zu ihr schaut, als erhereinkommt. Er ist völlig in seine Akte vertieft und wendet sich zum Bett von Gretels Zimmernachbarin: »Hallo, Frau Sieveking.« Da niemand antwortet, bemerkt er die Verwechslung nicht und bleibt völlig in die Laborwerte vertieft: »Niere o.k., Leber o.k., Blut o.k.«, murmelt er, fragt dann beiläufig: »Bestehen Allergien?«
»Nicht, dass ich wüsste«, springe ich ein, und der Arzt nimmt zum ersten Mal Notiz von mir. »Frau Sieveking liegt übrigens hier.« Ich deute auf das Bett meiner Mutter neben mir. Der Arzt zuckt mit den Schultern, macht sich einen Vermerk – tut ja eh nichts zur Sache, wenn keiner ansprechbar ist. Ich frage ihn, wie sie die Tabletten und das Wurstbrot zu sich nehmen soll, wenn sie nichts schlucken darf und intravenös ernährt wird. Er sagt, das sei Sache der Schwestern – und verschwindet.
Später sind wir mit einer Chirurgin verabredet, die uns über die geplante Behandlung von Gretels wundgelegenem Rücken aufklären soll. Wir wundern uns, dass die Ärztin sich gar keinen persönlichen Eindruck von Gretel machen möchte, sondern lieber auf dem Gang vor der Tür mit uns spricht.
»Wollen wir nicht hineingehen zu meiner Mutter? Da ist auch ihr Pflegeprotokoll.«
»Nein, nein, das ist nicht nötig«, antwortet die Ärztin, die einen sehr ungeduldigen Eindruck macht und ständig auf die Uhr blickt. Immer wieder klingelt ihr Telefon, aber sie stellt es nicht stumm, sondern unterdrückt nur die Anrufe. Uns gibt sie ein paar eng beschriebene Seiten über Ablauf und Risiken eines ›Vakuumwundverschlusses‹ in die Hand. Neben einer Tiefenreinigung der Verletzung sei so ein Wundverschluss sehr ratsam. Bei dieser Behandlung werde ein ›Schwämmchen‹ in die Wunde eingesetzt und anschließend mit einer Membran luftdicht verschlossen. Eine elektrischen Pumpewürde dann laufend das Wundsekret abpumpen und die Heilung wesentlich beschleunigen.
»Wollen Sie sich denn wirklich nicht die Wunde mal angucken?«, frage ich die Chirurgin. »Vielleicht braucht es ja gar keinen Wundverschluss.«
»Das kann ja der Operateur am Montag beurteilen.«
»Ach? Sie werden gar nicht selbst operieren?«
»Nein, ich habe Wochenend-Dienst, Montag früh ist jemand anderes da.«
Wir sollen uns keine Sorgen machen, das sei ein ganz leichter Eingriff. Man könne die Wunde dann bis zum Verbandwechsel ein paar Tage in Ruhe lassen. Damit sei dann allerdings wieder eine kleine OP verbunden.
»Das geht dann mit einer örtlichen Narkose, oder?«, fragt mein Vater. Eigentlich eine rhetorische Frage.
Doch die Ärztin schüttelt den Kopf: »Nein, da machen wir eine Vollnarkose. Es wäre zu schmerzhaft und schwierig, wenn sich der Patient bewegt.«
Vollnarkose? Da läuten bei uns die Alarmglocken! Aus der letzten Vollnarkose bei ihrer Hüftoperation vor sechs Jahren war Gretel nur schwer verwirrt wieder erwacht. Dieses Ereignis ist für uns so etwas wie der offizielle Startschuss für Gretels Demenz. Eine Vollnarkose ist wieder so etwas, was wir unbedingt vermeiden wollen. Und jetzt ist gleich von mehreren die Rede?
»Machen Sie sich wegen der Narkose keine Sorgen«, beschwichtigt uns die selbstbewusste Chirurgin. »Es geht hier ja nur um einen ganz kleinen Eingriff. Das dauert höchstens eine Viertelstunde. Ohne einen solchen Vakuum-Wundverschluss gäbe es aber keine vernünftige Perspektive für eine Heilung des Dekubitus. Man sollte das schon aus rein ästhetischen Gründen machen.« Die Chirurgin wirkt sehr kompetent, und ihre Worte machen starken Eindruck auf uns.»Diese Behandlung würde ich auch bei jemandem empfehlen, der nur noch eine geringe Lebenserwartung hat. Das gehört zur absoluten Grundversorgung. Wollen Sie ihr zumuten, mit dieser Wunde zu leben?« Natürlich wollen wir das nicht!
Zufrieden eilt die Chirurgin nach diesem erfolgreichen ›Aufklärungsgespräch‹ davon, bevor uns einfällt zu fragen, wie
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