Vergiss mein nicht (German Edition)
Stationsbüro steht weit offen, daneben ist ein kleines Buffet mit Früchten und Keksen aufgebaut. Es gibt sogar einen eigenen Aufzug für diesen Teil der Station, der direkt vor Gretels neues Einzelzimmer führt. Der sonnendurchflutete Raum bietet einen wunderbaren Ausblick auf die grünen Hügel des Taunus. Auf dem Tisch liegen verschiedene aktuelle Tageszeitungen. Hier möchte man sofort einziehen!
Nur leider schmeckt der plötzliche Luxus schal nach dem, was wir vorher auf der Station gleich gegenüber erlebt haben. Es ist schon bitter: Obwohl Zimmer im gleichen Stockwerk frei sind, bekommt ein sterbenskranker Kassenpatient, der in einem Dreibettzimmer liegt, nicht die Möglichkeit, in ein Einzelzimmer zu ziehen, selbst wenn die Angehörigen Wache halten wollen. Erst wenn man nachhakt, wird die Möglichkeit eingeräumt – aber nur mit einem satten Aufpreis!
Während ich darauf warte, dass man Gretel in ihr neues Gemach bringt, trete ich ans Fenster, und mein Blick fällt auf das in der Sonne glänzende Homburger Schloss. Wieder kommen mir Zeilen aus dem ›Prinzen‹ in den Sinn, als der gebrochene Held über das Jenseits nachdenkt:
Zwar, eine Sonne, sagt man, scheint dort auch,
Und über buntre Felder noch, als hier:
Ich glaubs; nur schade, dass das Auge modert,
Das diese Herrlichkeit erblicken soll.
Kapitel 12
Die Mächte des Lichts
Der Vormittag ist herrlich hell, und Gretel scheint ihr neues Einzelzimmer auf der Privatstation mit dem weiten Ausblick sichtlich zu genießen. Ihr Gesicht hat eine gesunde, rosige Farbe, und sie braucht keinen zusätzlichen Sauerstoff mehr. Guter Laune und wach wie schon lange nicht mehr lässt sie ihren Blick von mir über Gabija bis zu meinem Vater wandern, der ihr gegenüber am Fußende des Bettes steht.
»Wer bist denn du?«, fragt sie ihn charmant.
»Ich bin dein Mann.«
»Das wäre schön!«, strahlt sie ihn an und Malte kommt an ihre Seite, um sie zu umarmen.
»Oh, wie schön, dass es dir besser geht!«, bricht es aus mir heraus und ich trete ebenfalls näher an Gretels Seite. Sie reagiert, indem sie meinen überschwänglichen Tonfall nachäfft: »Oh, ooh!« Dabei guckt sie mich herausfordernd an und bringt mich zum Lachen.
Dann nuschelt sie etwas, dass sich nach »Ich hab Durst« anhört. Auf ihrem Beistelltisch steht, neben diversen Utensilien wie feuchten Wattestäbchen und Mullbinden, die sie braucht, um ihren ständig trockenen Mund zu befeuchten, auch ein Becher Wasser. Allerdings gibt es damit ein Problem: Hier im Krankenhaus werden sogenannte ›Schnabelbecher‹ benutzt, das sind grellbunte Plastikbecher mit einem Deckel, der sich zu einem schmalen Ausläufer verjüngt, der wie ein dicker Strohhalm aussieht. Gretel saugt aber nicht daran wievorgesehen, sondern fängt an zu beißen, wenn der spitze Deckel in ihren Mund kommt. Und wenn dann die Flüssigkeit aus dem Trichter hervorschießt, ist die Gefahr groß, dass sie sich verschluckt.
Gerade als ich versuche, den Deckel von dem Becher abzuschrauben, erscheint die Logopädin in der Tür. Die quirlige junge Frau trägt ein Tablett mit einem Mittagessen vor sich her und hat die Szene blitzschnell erfasst. »Ich sage den Schwestern immer wieder: ›Nehmt nicht diese Schnabelbecher!‹ Aber sie wollen einfach nicht hören. Dabei ist ein ganz normales Glas viel praktischer.«
Dass Gretel sich gestern, nachdem sie gegangen war, beim Füttern kräftig verschluckt hat und ihr der Schleim abgesaugt werden musste, scheint die tatkräftige Logopädin nicht zu kratzen. Heute hat sie Erbseneintopf mit Würstchen dabei. »Ich hab mich mit der Küche gestritten«, erklärt sie die mutige Essenswahl, »denn so eine Mischung aus festen und flüssigen Bestandteilen wie in einem Eintopf ist eigentlich nicht optimal bei Schluckschwierigkeiten. Aber wir lassen einfach die Wurststückchen weg, dann geht das schon!« Sie stellt das Tablett ab und beugt sich über Gretel, die mit geschlossenen Augen und zugesperrtem Mund daliegt. Als ihr die Therapeutin zart über die Wange streicht, öffnet sie wie von Zauberhand den Kiefer und lässt sich bereitwillig das Zahnfleisch massieren. Gabija, die keine Gelegenheit auslässt, sich pflegerisch fortzubilden, postiert sich gegenüber und beobachtet aufmerksam jeden Handgriff. Ab und zu öffnet Gretel die Augen und lächelt die beiden freundlich an. Gabija tauscht nach ein paar Minuten mit der Logopädin die Seiten und übernimmt den Löffel, um das Füttern zu trainieren. Als
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