Vergiss mein nicht (German Edition)
Gretel wieder die Augen öffnet, guckt sie verwundert von der einen zur anderen Seite und stellt fest: »Oh, du bist jetzt da – und du –«, ihr Blick wandert wieder zurück, »– bist da!« Offenbar hat siesich das Gesicht gemerkt, das den Platz gewechselt hat. Ich bin ganz baff, dass Gretels Kurzzeitgedächtnis noch zu so einer Leistung fähig ist.
»Super! Ich finde, sie ist auf einem guten Weg«, schließt die Logopädin ihren Schnellkurs ab und verabschiedet sich. »Ich muss dann weiter.« Als sie schon aus der Tür ist, fällt mir ein, dass wir gar nicht über das Drama von gestern Nachmittag auf der anderen Station gesprochen haben, als sich Gretel wieder massiv verschluckt hat. Ist die Logopädin überhaupt informiert worden? Egal! Hauptsache, wir geben Gretel nicht auf! »Soll ich Gretel geben Joghurt?«, fragt mich Gabija und ich nicke. Warum nicht ein Joghurt als Nachtisch?
Aber das war wohl keine gute Idee. Gretel fängt kurz darauf an zu husten und keuchen, sie schnappt nach Luft und wird ganz bleich. Ich stürze auf den Gang hinaus und rufe um Hilfe. Als ich zurückkomme, hält mein Vater Gretels Hand und streicht ihr beruhigend über den bebenden Kopf. »Oh bitte, bitte«, keucht sie elend. Dann kommt die Oberschwester herein, und wir erklären ihr hastig, was passiert ist, während sie das Absauggerät in Betrieb nimmt und Gretel den Schlauch durch die Nase einführt. Gretel durch den Mund abzusaugen kommt nicht in Frage, weil sie automatisch auf den Plastikschlauch beißt, sobald er ihr zwischen die Zähne kommt. Also muss der Schlauch über die Nase in die Luftröhre bis in die Bronchien geschoben werden. Diesmal wehrt sich Gretel besonders vehement: »Nein!«, ruft sie panisch und zieht der rüstigen Schwester kräftig an ihrem Haarzopf. Die schreit laut auf und kann sich nur mit Maltes Hilfe aus dem Klammergriff meiner Mutter befreien. Während die Schwester weiter absaugt, halten wir Gretels Arme fest. Sie japst und schnauft verzweifelt, ist bald schon zu schwach, um sich überhaupt noch zu wehren. Durch das Absauggerät wird eine Menge Sekret zutage gefördert, die Oberschwester ist ganzschockiert: »Was ist das? Erbsensuppe? Das gibt’s doch gar nicht! Also, so etwas habe ich in 30 Jahren noch nicht erlebt!«
Als sich die Chefarzt-Visite einstellt, ist Gretel weggetreten, ihre Stirn fiebrig heiß, sie zittert am ganzen Körper und ihr Atem ist flach und hektisch. Die Mediziner bauen sich vor ihrem Bett nebeneinander auf wie Orgelpfeifen: Chefarzt, Oberarzt, Stationsärztin und eine Krankenschwester.
Der Chef schielt kurz auf Gretel und fragt meinen Vater:
»Was wollen Sie?«
»Wie meinen Sie das?«
»Normalerweise würde ich Ihre Frau in diesem Zustand sofort auf die Intensivstation bringen lassen, aber das wird ja nicht mehr gewünscht. Also sollten wir zunächst klären, was Ihrer Meinung nach noch hier bei uns geschehen soll.«
»Wir hoffen, dass wir sie möglichst bald zu uns nach Hause nehmen können«, versucht mein Vater eine klare Antwort. »Am besten ohne Schläuche, und natürlich wünschen wir uns, dass es mit dem Füttern wieder klappt.«
»So bringen wir sie aber um«, stellt der leitende Arzt fest.
Mein Vater fragt ihn, was genau denn beim Schlucken nicht funktioniere. »Egal was die Ursache ist, Fakt ist, dass es jetzt zweimal nach dem Essen zu einer lebensbedrohlichen Situation kam. Gefüttert wird sie hier nicht mehr!« Der Chefarzt empfiehlt dringend zur Ernährung eine PEG-Magensonde, die mit einem Schlauch durch die Bauchdecke gelegt werde. »Doch jetzt müssen wir erst mal die Lungenentzündung in den Griff bekommen. Wie steht es denn um den Dekubitus?«
Mein Vater erklärt, dass wir von dem ursprünglich geplanten Wundverschluss absehen wollen, da wir Gretel nicht eine Reihe von OPs mit Vollnarkosen zumuten möchten. Der Chefarzt nickt mit versteinerter Miene und verabschiedet sich. Als das Team abgezogen ist und wir wieder mit der elend schlotterndenGretel allein sind, fragt mein Vater betrübt: »Haben wir wirklich die Intensivstation ausgeschlossen?«
»Ich glaube ja«, antworte ich. »Wenn wir nicht mehr wollen, dass sie reanimiert und künstlich beatmet wird, bedeutet das wohl so viel wie: Keine Intensivstation mehr.«
Nach der Visite gehe ich hinunter in die Krankenhauskantine, um mir etwas Süßes zu holen und auf andere Gedanken zu kommen. Doch das Erste, was mir ins Auge springt, ist die Bildzeitung in der Auslage eines Kiosks, die titelt:
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