Vergiss mein nicht (German Edition)
geguckt!«
Nach dem kurzen Höhenflug heute Mittag fühlt es sich jetzt wie bei einer Bruchlandung an. Ich fühle mich bleischwer und trotz Mittagsschlaf unendlich müde. Der Abend naht, und mein Vater bricht zu Gretel ins Krankenhaus auf; ich soll ihn dann später zur Nachtschicht ablösen.
Doch schon lange vor dem Schichtwechsel kommt Malte wieder zurück und berichtet, dass Gretel eine neue Zimmernachbarin habe, die nachts keinen Besuch im Zimmer dulde, weil sie dann nicht schlafen könne. »Ich habe dann eine Krankenschwester gefragt, ob es ein Einzelzimmer gebe, wo wir weiter unsere Nachtwache halten könnten. ›Das wäre dann aber ein Privatpatienten-Zimmer‹, erklärte sie mir, für das man einen Aufschlag von 95 Euro zahlen müsse. Für Begleitpersonennach 22 Uhr müssten aus versicherungstechnischen Gründen zusätzlich 65 Euro entrichtet werden.« Als mein Vater entgegnete, seine Frau sei aber doch privat versichert, warum man denn dann einen Aufschlag zahlen müsse, schüttelte sie energisch den Kopf: Das könne nicht sein, das stehe nicht in der Akte. Als sich in den Unterlagen aber kein Eintrag zur Versicherungsart fand und mein Vater ihr den Namen des privaten Unternehmens nannte, bei dem er und seine Frau versichert waren, rief die Schwester entsetzt: »Oh Gott, das heißt ja Chefarztbehandlung und Einzelzimmer für sie!«
Am nächsten Morgen, als Gretel auf die Privatstation verlegt werden soll, ist auf der ›Normalstation‹ der Teufel los. Mein Vater und ich dürfen nicht zu Gretel ins Zimmer, da ihre Dekubitus-Wunde gerade versorgt werde – als ob Malte und ich das nicht schon zigmal gesehen hätten. »Wahrscheinlich ist es ihnen peinlich«, scherze ich, aber es ist eigentlich makaber: Jetzt, wo Gretel ›Chefsache‹ ist, kommt plötzlich Leben in die Bude. Mir läuft ein Schauer über den Rücken beim Gedanken an die Auswüchse der Zweiklassenmedizin: Angenommen, wir hätten die Chefarztbehandlung in der Privatabteilung von Anfang an bekommen – wäre dann nicht längst ein Krankengymnast bei Gretel aufgetaucht?
Nach einer Weile kommt ein Pfleger aus Gretels Zimmer und holt eine Schwester herein. Die kommt schon bald wieder heraus und fragt eine Kollegin auf dem Gang:
»Warst du schon mal bei Frau Sieveking?«
»Ja.«
»Und hast du ihre Wunde versorgt?«
»Nee.«
»Was soll man denn da auf den Dekubitus drauftun?«
»Keine Ahnung. Sollen wir nicht lieber Katja rufen?«
Der Belegschaft scheint es egal zu sein, dass es Zuschauergibt: Ich fühle mich wie in einer 3D-Krankenhaus-Soap. Als ich mir im Gang mit heißem Wasser Tee aufgieße, höre ich durch die einen Spaltbreit geöffnete Tür des Stationsbüros, wie sich zwei Krankenschwestern ankeifen.
»Muss hier denn jeder, sobald er einen Fehler entdeckt, wutentbrannt herumlaufen und den Schuldigen suchen?«
»Ich versteh’ nicht, warum das nicht gemacht wurde!«
»Aber man kann es doch dann einfach selbst erledigen. Und man kann doch auch einen anderen Ton wählen! Das ist doch der Grund, warum die Stimmung hier so schlecht ist. Früher war das anders!«
Ich kann nicht beurteilen, ob das Gespräch mit meiner Mutter zu tun hat, sicher ist aber, dass in ihrem Zimmer weiterhin reger Verkehr wie in einem Bienenstock herrscht. »Wo ist eigentlich Frau Babel?« schnappe ich die Frage einer Schwester auf, die aus dem Zimmer eilt.
»Die ist doch am Samstag gestorben«, antwortet ihr eine Kollegin im Vorbeigehen.
Als endlich Katja, die Wundpflegerin, auftaucht, kommt Form in das Gewusel. Sie scheint ein anerkannter Vollprofi auf ihrem Gebiet zu sein, und der Schwarm ordnet sich ihr bereitwillig unter. Als Schwester Katja nach einer Viertelstunde mit der Behandlung fertig ist, lässt sie uns wissen, dass die Wunde in einem relativ guten Zustand sei und unsere Pfleger zu Hause gute Arbeit geleistet hätten. Das hören wir natürlich gerne, nur klingt es, als wäre Gretel erst gestern und nicht schon vor einer guten Woche hier eingeliefert worden. Wie hatte man sich denn bisher hier auf der Station für Kassenpatienten um die Wunde gekümmert? Ich will es lieber gar nicht wissen.
Im hellen Privatpatienten-Trakt fühlt sich gleich alles besser an – fast zu gut. Die Wände sind in zarten, warmen Farbengehalten und mit deutlich schöneren Bildern behängt. Es herrscht eine freundliche, beinahe gemütliche Atmosphäre. Im Gang begegnet man lächelnden Praktikanten in fliederfarbener Uniform, die einem Tee und Kaffee anbieten. Die Tür zum
Weitere Kostenlose Bücher