Vergiss mein nicht (German Edition)
Argumente der Mediziner im Krankenhaus hatten uns davon überzeugt,dass man künstliche Ernährung bei Gretel nicht unversucht lassen sollte.
Meine Tante zeigt sich höchst erfreut über die Nachricht, dass wir ihre Schwester über eine Magensonde ernähren wollen. Sie erzählt mir von einer Freundin, die schon einige Jahre mit einer solchen Sonde lebt und damit gut zurechtkommt. Sie stelle das Gerät einfach über Nacht an. Allerdings sei sie auch nicht schwer demenzkrank wie Gretel, sondern ihre Speiseröhre arbeite nicht mehr, sodass sie Nahrung nicht mehr durch den Mund aufnehmen könne.
Doch als ich in der Nacht vor Gretels Operation meiner Freundin am Telefon von unserem Entschluss erzähle, kriegen wir uns kräftig in die Haare. Sie findet es schrecklich, dass wir unsere Meinung geändert haben und Gretel ohne ihren ausdrücklichen Willen einen Schlauch in den Magen legen lassen wollen. All meine guten Argumente verpuffen. Ich fühle mich angegriffen und unverstanden. Soll sie denn verhungern? Ich will doch nur das Beste!
Nach dem hitzigen Telefonat arbeitet es stark in mir. Meine ältere Schwester hatte ähnlich wie meine Freundin reagiert, als sie von unserem neuen Plan hörte: »Wollt Ihr Gretel das wirklich antun? Ich dachte, wir waren gegen künstliche Ernährung?« Und dann auch noch die ›Übergangsschwester‹ heute im Krankenhaus. Wie kann es sein, dass es so viel Widerspruch gab? Wir haben doch Für und Wider sorgfältig abgewogen und die Sonde für die vernünftigste Lösung befunden. Doch intuitiv fühlt es sich jetzt plötzlich falsch an.
Die Stationsärztin im Krankenhaus hatte mir gesagt, sie glaube, Gretel könne mit einer PEG-Sonde noch einige Zeit mit gewisser Lebensqualität zu Hause verbringen. Wenn wir sie dagegen im jetzigen Zustand ohne ›Schläuche‹ zur Ernährung nach Hause nähmen, würde sie mit Sicherheit sehr bald sterben. So war mir die Sonde schmackhaft gemacht worden.Aber als ich nach dem Streit mit meiner Freundin im Internet recherchiere, stellt sich die Sachlage längst nicht so eindeutig dar. Im Gegenteil: PEG-Sonden sind speziell bei schweren Demenzfällen sehr umstritten. Viele grundsätzliche Fragen sind im Krankenhaus gar nicht angesprochen worden. Wann darf ein Mensch sterben? Bedeutet Lebensbegleitung auch Sterbebegleitung oder das Ermöglichen des Sterbens?
Demenzkranken, die Nahrung verweigern oder Schluckstörungen haben, wird im deutschen Pflegealltag gerne eine Magensonde gelegt, einmal, um der anstrengenden, zeitintensiven Fütterung zu entgehen, aber auch, um sich nicht den Vorwurf der Vernachlässigung einzuhandeln, sollte jemand in der Pflegeeinrichtung verhungern oder verdursten.
Mitten in der Nacht liege ich wach und wälze mich im Bett. ›Was hätte Gretel selbst gewollt?‹ Diese Frage kreist in meinem Kopf wie eine lästige Mücke, die mich nicht schlafen lässt. Ehrlich gesagt, glaube ich nicht, dass meine Mutter eine Magensonde gewollt hätte. Die Frage bei ihr ist ja auch, ob ›das Leben verlängern‹ nicht auch bedeutet: ›die Qualen verlängern‹. Wie wäre es, wenn ein Schlauch aus meiner Bauchdecke käme und ich nicht wüsste, warum, und wenn ich zudem keine Ahnung hätte, wo ich überhaupt bin? Würde ich nicht versuchen, mir den Schlauch zu entfernen? Den Katheter an ihrer Hand hatte sich meine Mutter im Krankenhaus schließlich mehrmals herausgezogen.
Auf der anderen Seite hatte Gretel nie grundsätzlich etwas gegen medizinische Technik. Sie kümmerte sich jahrelang liebevoll um ihre Freundin, die im Koma lag und künstlich ernährt und beatmet wurde. Der Mann einer ihrer besten Freundinnen konnte nur dank einer Herztransplantation weiterleben, und Gretel nahm daran stark Anteil und freute sich sehr über die Zeit, die sie noch mit ihm verbringenkonnte. Sie war also bestimmt nicht grundsätzlich gegen lebensverlängernde Maßnahmen!
Und was war mit ihrer eigenen Hüftoperation, zu der sie sich entschieden hatte? War so eine Magensonde nicht eine Art ›Prothese‹, anstatt eines künstlichen Gelenks eben ein Ersatz für den nicht mehr funktionierenden Schluckapparat? Es ist doch nur ein dünner Schlauch. Sollten wir das nicht wenigstens einmal probieren? Ob man sie nun durch den Mund füttert oder etwas direkt in den Magen leitet, ist doch eigentlich gleichgültig – solange sie noch selber atmet, halten wir sie doch gar nicht künstlich am Leben!
Im Halbschlaf stelle ich mir vor, dass Malte, Gabija, meine Schwestern und ich
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