Vergiss mein nicht (German Edition)
zu Avantgarde-Konzerten. Sie liebte das Theater, die Oper und das Kino. Wenn gute Musik geboten wurde, ging sie selbstverständlich auch gerne in die Kirche. Sie brachte mir auch bei, eine Art Mantra zu benutzen, das mir bei schwierigen Entscheidungen und wichtigen Prüfungen helfen sollte, mich nicht zu verlieren: »Ich bin ich. – Ich bin ich. – Ich bin ich ...«
Mein Vater erzählte mir, dass Gretel, nach ihrer Demenz-Diagnose schon schwer verwirrt, ihn eines Morgens aufforderte: »Sei Dududu, sei einfach Dudududu!«
Gretels ›Ich-bin-ich-Mantra‹ hilft mir auch heute im Krankenhaus, mich wieder aufzurichten, und ich gehe zurück in ihr Zimmer. Ich bin schließlich an der Reihe, bei ihr Wache zu halten. Aber was würde ich eigentlich tun, wenn sich ihr Zustand plötzlich verschlechterte? Es ist seltsam, an diesem Ort zu sein, aber all die vorhandenen medizinischen Möglichkeiten im Notfall gar nicht zu nutzen. Gretel sieht noch so jung und frisch aus, gerade scheint ihr die Sonne ins Gesicht, und sie liegt mit einem Lächeln da wie eine zufriedene Katze. Darf man jemanden, der so aussieht, verhungern lassen? Als könnte sie meine Gedanken lesen, fragt sie plötzlich:
»Glaubst du, es geht weiter?«
»Äh – ja, klar«, stottere ich, und sie strahlt mich an.
»Wirklich? Das ist gut. Endlich ist es soweit. Gott sei Dank, Gott sei Dank.«
Kapitel 13
Bauchgefühl und Magensonde
»Hallo, ich bin die Karin«, stellt sich die ›Übergangsschwester‹ bei meinem Vater und mir vor, als sie sich am Bett meiner Mutter im Krankenhaus einfindet. Sie soll uns helfen, den Übergang vom Spital nach Hause zu organisieren, nachdem Gretel sich wieder einigermaßen von ihrer Lungenentzündung erholt hat. Es geht unter anderem darum, welche Geräte wir brauchen und welcher Pflegedienst eingebunden werden soll. Schwester Karin arbeitet auch in einem Sterbehospiz, und während des Gesprächs kriege ich das Gefühl, dass der ›Übergang‹, um den es hier geht, auch schon die Schwelle vom Diesseits ins Jenseits ist. Die Schwester hält jedenfalls unsere Entscheidung, Gretel eine Sonde zu legen, gar nicht für selbstverständlich.
»Sind Sie sich da ganz sicher?«, fragt sie meinen Vater eindringlich. »Haben Sie sich auch gut überlegt, was es bedeutet, Ihre Frau so zu behandeln?«
Ich werde innerlich wütend: Jetzt quälen wir uns schon über eine Woche und haben uns endlich zu einer Entscheidung durchgerungen, und dann kommt diese ›Übergangsschwester‹ daher und stellt wieder alles infrage?
»Hier im Krankenhaus haben uns aber alle Ärzte zu einer Sonde geraten«, erkläre ich trotzig. »Gerade weil wir sie zu uns nach Hause holen wollen.«
»Wir können doch ein Wunder nicht ausschließen!«, fügt mein Vater hinzu.
»Der Eingriff ist ja auch praktisch ungefährlich«, halte ich der weiterhin skeptischen Schwester entgegen. »Und wenn sie erst einmal anständig ernährt ist, geht es ihr sicher auch insgesamt besser. Dann lernt sie vielleicht wieder laufen, und wer weiß, ob sie das mit dem Essen nicht auch wieder hinkriegt!« Ich hole kurz Luft und bringe noch ein schlagendes Argument vor: »Und wenn wir die Sonde nicht mehr wollen, lassen wir sie einfach wieder weg!«
Doch die Übergangsschwester bleibt kritisch:
»Hätte Ihre Mutter das denn gewollt?«
»Gretel möchte bestimmt gerne bei uns zu Hause sein«, weicht mein Vater der Frage aus.
»Aber muss man sie dafür künstlich ernähren?«, bohrt Schwester Karin weiter. »Ich habe das jedenfalls bei meiner Mutter nicht gemacht. Viele Menschen wollen am Lebensende einfach kein Essen mehr zu sich nehmen. Darauf kann man Rücksicht nehmen und nur noch Flüssigkeit geben, soweit es geht.«
›Könnt ihr euch auf dieser verdammten Station nicht mal einig werden!‹, denke ich und erwidere kämpferisch: »Sie reden vom Ende, aber meine Mutter ist doch noch lebendig! Vor einem guten Monat ist sie gelaufen und hat mit ihren Enkeln Kekse gebacken!«
Die Schwester nickt verhalten. Sie könne unsere Entscheidung natürlich verstehen. Aber wir sollten bedenken, dass eine Magensonde auch nicht ganz unkompliziert sei, daran müsse sich der Körper erst gewöhnen, und es dauere immer eine Zeit, bis die Nahrungsaufnahme richtig funktioniere.
Doch wir sind nicht von unserem Plan abzubringen, zu verlockend scheint uns die Chance einer Lebensverlängerung für unsere geliebte Gretel. Malte hat die Einverständniserklärung für die Operation schon unterschrieben. Die
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