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Vergiss mein nicht (German Edition)

Vergiss mein nicht (German Edition)

Titel: Vergiss mein nicht (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Sieveking
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Besonders der linke Unterschenkel ist ganz verkümmert. Es sieht nicht so aus, als ob sie noch darauf stehen, geschweige denn damit laufen könnte. Wir wollen sie ab jetzt als tägliche ›Gymnastik‹ zweimal am Tag für ein, zwei Stunden in den Stuhl setzen.
    Nachmittags sticht die Stationsärztin während der Oberarzt-Visite eine neue Nadel in Gretels Hand. Die Infusion muss jetzt immer öfter von einer Seite zur anderen gewechselt werden, damit die Arme nicht zu sehr anschwellen. »Wir sind hier im Demenz-Endstadium«, erklärt der Oberarzt, ohne mit der Wimper zu zucken. »Aspiration, Lungenentzündung und Tod ist, was da typischerweise passiert. Mit einer Magensonde könnten wir diesen Prozess aufhalten und versuchen, sie zu stabilisieren. Wichtig ist jetzt natürlich erst einmal, die Lungenentzündung einzudämmen.« Wenn das Fieber unten bleibe, könne man die Magensonde legen, wahrscheinlich müsse man noch mit einer weiteren Woche Krankenhausaufenthalt rechnen. Die Stationsärztin, die mir weitaus sympathischer ist als der schroffe Oberarzt, berichtet, dass sie mit dem Neurologen im Haus gesprochen habe.Der hat sich Gretel zwar nicht selber angeschaut, rate aber generell davon ab, ihr noch Essen durch den Mund zu geben. Aspiration sei ganz typisch bei einer fortgeschrittenen Demenz. Füttern sei über kurz oder lang bei dieser Erkrankung sowieso nicht mehr möglich. Der Oberarzt beschließt die Visite, indem er mich anhält, meinem Vater und meiner Familie auszurichten, dass eine Entscheidung bezüglich der Magensonde dringend anstehe. Nach der Visite folge ich den beiden noch auf den Gang hinaus und stelle der Stationsärztin eine Frage, während der Oberarzt schon ungeduldig weitereilt. »Gesetzt den Fall, man entscheidet sich für eine Magensonde, kann man dann irgendwann auch wieder sagen: ›So, jetzt nehmen wir die Sonde wieder raus?‹ Vielleicht lernt sie ja doch wieder zu schlucken?« Die Ärztin guckt verwundert und antwortet: »Theoretisch ja. Aber ich habe das ehrlich gesagt noch nie erlebt oder gehört, dass ein Demenzkranker mit einer Magensonde wieder angefangen hat zu essen. Entschuldigen Sie, aber ich muss jetzt wirklich weiter.«
    Und was, wenn man irgendwann gar nicht mehr will, dass Gretel ernährt wird? Wenn man sie einfach nur friedlich einschlafen lassen möchte? Mit etwas gar nicht erst anzufangen fühlt sich einfacher an, als mit etwas aufzuhören.
    Ratlos setze ich mich auf einen Stuhl im Gang gegenüber von Gretels Zimmer. Auf dem Beistelltisch liegt ein gerolltes Zettelchen, das jemand hat liegenlassen. Unwillkürlich nehme ich es in die Hand und entrolle das kleine Papier. Darauf steht eine biblische Losung: ›Das geknickte Rohr wird er nicht zerbrechen, und den glimmenden Docht wird er nicht auslöschen‹ (Jesaja 42, Vers 3). Obwohl ich mir nie viel aus der Bibel gemacht habe und nicht getauft bin, sprechen die Worte mich an. Sie kommen genau im richtigen Zeitpunkt, um mir Trost zu spenden. Irgendjemand hat diesen Spruch hier für mich bereitgelegt, und das ist schön!
    Ich denke an Gretels Beziehung zum Christentum: Auch etwas, worüber ich gerne noch mit ihr gesprochen hätte. Sie ist sehr fromm aufgewachsen, da ihr Vater einer pietistischen Bruderschaft angehörte, aber ich kenne sie nur als kirchenkritische Atheistin. Mir ist aufgefallen, dass sie im fortgeschrittenen Stadium ihrer Demenz häufiger als früher »Oh Gott« oder »Um Gottes Willen« sagte. Auch »Jeggersch« – wohl eine schwäbische Verballhornung von ›Jesus‹, habe ich eine Zeit lang häufiger als gewöhnlich von ihr gehört. Diese christlichen Bezüge scheinen bei ihr ganz tief zu sitzen. Wenn sie wirklich verärgert war, sagte sie früher manchmal: »Himmel Herrgott sakra kruzitürken nochmal«. Schon stark an Demenz erkrankt, entfuhr ihr noch ab und an die Kurzform »Herrgott sakra«.
    Nicht lange vor ihrer schicksalhaften Hüftoperation schickte mir Gretel einen Brief mit Material über ihren Vater, als ob sie geahnt hätte, dass sie bald ihre Erinnerung verlieren würde. ›Ich geb’s Dir weiter!‹, schrieb sie begleitend, und erklärte, dass sie mir nie etwas über ihren Vater erzählt habe, weil sie fast nichts von ihm wisse, außer seinem traurigen Ende im Mai 1945. Als schon alle dachten, der Krieg sei vorbei und die Kapitulation Deutschlands bereits verhandelt wurde, fiel er noch einem sinnlosen Gefecht zum Opfer.
    Gretel hatte immer mit großem Respekt von ihrem Vater gesprochen, und ich

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