Vergiss mein nicht (German Edition)
verbinde etwas strahlend Heldenhaftes mit ihm. Besonders deutlich wurden mir Gretels Gefühle für ihren Vater in den letzten Jahren, als sie ihr konkretes Gedächtnis schon verloren hatte. Ihre Mutter, mit der sie zeitlebens in Kontakt war, und um die sie sich bis zu ihrem Ende Mitte der 90er-Jahre gekümmert hatte, erkannte sie auf Fotos nicht mehr. Aber sie hielt regelmäßig andächtig vor dem Bild ihres Vaters inne, das bei uns im Flur aufgehängt war.Er blickt darauf in klassischer Bergsteigermontur entschlossen in die Ferne und erinnert an Louis Trenker. Bei diesem Anblick erklärte sie immer wieder feierlich: »Das ist mein Vater.« Und einmal verriet sie mir noch: »Wenn er nur auch noch leben würde, würde ich ihn sehr lieben.« Sie hatte da schon jegliche Orientierung in Raum und Zeit verloren, aber über ihren Vater wusste sie noch relativ gut Bescheid, obwohl sie ihn im Alter von fünf Jahren zum letzten Mal gesehen hatte. »Er war, und dann war er nicht mehr«, stellte sie fest. Ich stimmte ihr zu und erwähnte, dass er im Krieg gefallen war. Sie erwiderte: »Aber da hat er doch gar nicht mitgemacht!«
Tatsächlich war mein Großvater ein überzeugter Pazifist gewesen und hatte sich auch aufgrund seiner christlichen Überzeugung den Nazis und dem von ihnen angezettelten Krieg soweit es ging verweigert. Dreimal wurde er vorgeladen, um der Partei beizutreten. Zur ›Strafe‹, dass er nicht mitmachte, bekam er keine öffentlichen Aufträge mehr als Architekt und wurde noch in dem ungewöhnlich hohen Alter von 37 Jahren eingezogen, obwohl das bei einem Vater von vier Kindern normalerweise nicht üblich war. Da er keinen Befehl zum Töten geben wollte, lehnte er eine Offizierslaufbahn ab und wurde als gemeiner Soldat an die Ostfront geschickt. Er überlebte den Russlandfeldzug und war bei Kriegsende auf dem Weg nach Hause, als ein junger Offizier aus seinen Reihen das Feuer auf eine amerikanische Panzerdivision eröffnete. Augenzeugen aus dem österreichischen Dorf, in dessen Nähe das anschließende Blutbad stattfand, berichteten, dass man unter den Toten auch einen ›Weißhaarigen‹ gesichtet habe, den man im Massengrab beisetzte.
Meine Mutter hat nicht nur die auffällig weißen Haare, die sich schon in jungen Jahren entwickelten, von ihrem Vater geerbt, sondern auch ihren starken Gerechtigkeitssinn und ihren Willen, für Ideale einzutreten. Das ging in ihrem Fallezwar nicht auf religiöse Überzeugungen zurück, aber das Beispiel ihres Vaters könnte die Triebfeder ihres Einsatzes für den Sozialismus und das jahrzehntelange Engagement für politisch Verfolgte gewesen sein. Auf der anderen Seite setzte die Emanzipation von der strengen Frömmigkeit des Vaters auch ihre ersten rebellischen Impulse frei.
Mein Großvater war ein passionierter Bergsteiger gewesen und ursprünglich keineswegs fromm. Aber als er bei einer Bergtour von einer Lawine erfasst und verschüttet wurde, hatte er ein Erweckungserlebnis. Er schwor, sich im Falle seiner Rettung zu Gott zu bekennen und einer christlichen Bruderschaft beizutreten. Als er tatsächlich gerettet wurde, blieb er seinem Gelübde treu. Für meine Mutter bedeutete das eine Kindheit mit Bibelstunden und frommen Regeln der Demut sowie strenge Frisurvorschriften: Zopf oder Knoten. Gretels Mutter war eigentlich modebewusst, aber trug selbst nachdem ihr Mann offiziell für tot erklärt worden war, noch züchtig ein Kopftuch: »Der Papa hat’s so gewollt.«
Gretel dagegen versuchte, sich von den Vorschriften ihrer eng umgrenzten Herkunftswelt zu befreien. Sie erzählte mir, wie sie als 16-Jährige eines Tages mit dem Fahrrad ihres Vaters von Stuttgart nach Nürnberg gefahren war und sich dort beim Friseur feierlich die Haare hatte abschneiden lassen. Im Studium wurde sie zunächst durch ein evangelisches ›Studienwerk‹ gefördert, aber bald ließ sie auch dies hinter sich und sorgte dafür, dass sie als Studentin ganz auf eigenen Beinen stand. Sie trat aus der Kirche aus und lehrte mich später ein ›Vaterunser‹ von ihrem ›Heim- und Herddichter‹ Robert Gernhardt:
Lieber Gott, nimm es hin,
dass ich was Besond’res bin.
Und gib ruhig einmal zu,
dass ich klüger bin als du.
Preise künftig meinen Namen,
denn sonst setzt es etwas. Amen.
Wenn ich an die Spiritualität meiner Mutter denke, denke ich vor allem an Kunst und Kultur. Wir pilgerten sonntags gerne ins Museum für Moderne Kunst nach Frankfurt oder in den Sendesaal des Hessischen Rundfunks
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