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vergissdeinnicht

vergissdeinnicht

Titel: vergissdeinnicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cat Clarke
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hielt die Luft an, weil ich mir sicher war, er würde aufwachen. Aber er schlief weiter.
    Ich weiß nicht, wie lang ich dort saß – vielleicht zwanzig Minuten? Ich konnte nicht glauben, dass er eingeschlafen war. Es war grotesk. Ich meine, ich bin schon ein paarmal im Nachtbus eingeschlafen, aber was war das für ein unfähiger Kidnapper, der einfach einschlief und seinem Opfer die perfekte Gelegenheit bot abzuhauen? Und was war das für ein verkorkstes Mädchen, das die perfekte Gelegenheit zum Abhauen hatte, aber wie ein Schoßhündchen sitzenblieb?
    Ich kam wieder zu Verstand. Vorsichtig und leise stand ich auf und ging rückwärts zur Tür. Bei jedem Schritt behielt ich Ethan im Auge. Als ich die Tür erreicht hatte, hielt ich eine Sekunde inne, um mich bereit zu machen. Ich umfasste den Türgriff und drehte ihn. Und dann wurde ich plötzlich von einer Welle reinster Panik überwältigt. Mein Herz hämmerte in der Brust, und mir war heiß und kalt und zittrig und komisch. Ich konnte nicht genügend Luft in meine Lungen bekommen. Es war nicht genug Luft im Raum. Ich dachte, ich würde sterben.
    Mein Magen hob sich. Ich rannte ins Bad und kotzte ins Klo, hustete und spuckte und würgte. Und dann legte ich mich auf den kalten Boden und weinte. Ich wusste nicht, was mit mir geschah. Ich wusste nicht mehr, wie ich wozu stand. Warum hatte ich nicht einfach gehen können? Ich wollte nicht hier sein …
    … oder doch?
    Schließlich schleppte ich mich aus dem Bad und zum Bett. Ich kroch unter die Decke, legte mich hin und beobachtete Ethan. Den bitteren Geschmack hinten in meinem Hals versuchte ich zu ignorieren. Nach einer Weile regte sich Ethan. Er hob den Kopf, nahm die Hände vors Gesicht und rieb sich die Augen. Er drehte sich zu mir und blinzelte.
    »Du bist immer noch hier«, sagte er. Ich konnte nicht sagen, ob er sich freute oder enttäuscht war. Vielleicht beides.
    »Wo soll ich denn sonst sein?«
    Er nickte in Richtung Tür.
    »Was ist da draußen?«, fragte ich.
    »Alles.«
    Himmel! Dieser ganze Man-of-Mystery-Scheiß nervt langsam echt.
    »Grace, warum bist du nicht gegangen? Was macht dir Angst?«
    Ich dachte einen Moment lang nach. »Alles.«
    Das ist wahr.
    * * *
    Ethan saß noch eine Weile länger bei mir und sagte nichts. Ich spürte, wie meine Augenlider schwerer und schwerer wurden, bis ich mich nicht mehr dagegen wehren konnte. Der Schlaf kam. Ich erinnere mich nicht direkt an bestimmte Träume. Nur an ein paar zufällige Bilder, die ich nicht zusammenkriege. Dads Beerdigung im Regen. Sal, die auf einer Parkbank sitzt und mit einem schemenhaften Irgendwem Händchen hält. Und Devon, der aussieht, als hätte er eine Woche lang nicht geschlafen – traurig und besorgt sitzt er zusammengesunken auf einem unbequem aussehenden Stuhl.
    * * *
    Nat rief mich zwei Tag nach unserem Treffen an. Ich hatte mir schon in den Arsch gebissen, weil ich mir seine Nummer nicht hatte geben lassen, und bezweifelte, dass er jemals anrufen würde. Vielleicht hatte ich zu viel Gas gegeben? Oder nicht genug? Die meiste Zeit hatte ich damit verbracht, mein Telefon anzustarren und darauf zu warten, dass es endlich klingelte. Ich stellte mir Nat vor, wie er tief durchatmete, bevor er meine Nummer in sein Telefon tippte. Ich hoffte verzweifelt auf eine Ablenkung von meinem verschissenen Leben – alles, was ich in die Finger kriegen könnte, wäre mir recht. Und ich war definitiv mehr als scharf drauf, Nat in die Finger zu kriegen. Als er endlich anrief, war ich nicht ganz so cool, wie ich es gerne gewesen wäre. Wir quatschten ein bisschen, und ich redete so dämliches Zeug, dass ich mich förmlich zusammenreißen musste, um mir nicht das Telefon gegen den Kopf zu schlagen. Immerhin überredete ich ihn dazu, abends mit mir was trinken zu gehen.
    An diesem ersten Abend dachte ich, ich hätte keine Chance bei ihm. Er war freundlich und süß und lustig, aber eher wie ein Bruder. Und ich brauchte keinen Bruder, auch keinen Kumpel. Ich wollte ihn wirklich . Er hatte sich irgendwie in den letzten paar Tagen von »na ja schon ganz heiß« in »Mr. Obermegahammerheiß, schönster Junge in der GESAMTEN Geschichte der ganzen Welt« in meinem Kopf hochgearbeitet.
    Einmal an diesem Abend sagte Nat sogar, er hätte einen Freund, der wirklich perfekt zu mir passen würde. Und da saß ich und dachte, ich hätte mit meinen Gefühlen offensichtlicher nicht sein können. Na ja, ich hätte vielleicht noch mitten im Pub über den armen Kerl

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