vergissdeinnicht
mehr aufhören. Ich probierte einen Tropfen. Er war warm auf meiner Zunge.
Mum wusste ganz genau, dass etwas nicht stimmte. Sie versuchte sogar, mit mir zu reden. Ich ignorierte sie. Ich war so einsam – ich wollte so verzweifelt mit jemandem reden. Aber ich war nicht verzweifelt genug, um mit ihr zu reden.
Ich dachte kurz darüber nach, Sophie anzurufen. Ehrlich gesagt war ich ein bisschen sauer auf sie. Ich fand, sie hätte sich ruhig melden können, um sich nach mir zu erkundigen. Soweit es sie betraf, musste sie ja denken, ich könnte schwanger sein. Ich wusste, dass das albern war, weil ich sie a.) einfach im Regen stehen gelassen hatte und es nicht verdiente, dass sie sich um mich sorgte, und b.) wegen dem Schwangerschaftstest angelogen hatte. Mein Ärger war also kaum gerechtfertigt.
Ich rief niemanden an, und niemand rief mich an. Ich erstickte an meiner Einsamkeit. Ich konnte den Schmerz fast schon körperlich spüren. Am liebsten hätte ich mich auseinandergerissen. Ich wollte aus meiner eigenen Haut fahren.
Und dann änderte sich eines Abends alles. Ich war in meinem Zimmer und trank, um zu vergessen. Hörte depressive Musik. Sowas von Teenager . Es war mir sogar in dem Moment klar: Ich war ein Klischee, und nicht mal ein gutes.
Ich beschloss, meinen Arsch hochzukriegen und etwas zu tun. Ich zog mir Leggins und ein altes T-Shirt an, dazu meine Lieblingslaufschuhe, und stürzte aus dem Haus. Betrunken zu laufen kann ich wirklich nur empfehlen. Ich flog durch die Straßen. Okay, ab und zu stolperte ich ein bisschen, aber abgesehen davon würde ich sagen, dass der Alkohol mehr half als behinderte. Es dauerte nicht lange, bis ich denselben Rausch verspürte, den ich immer vom Laufen bekam. Ich hätte für immer laufen können. Selbst, als es anfing zu regnen, störte mich das nicht. Ich stieß mich nur noch fester vom Bürgersteig ab.
Ich hatte nicht vorgehabt, vor Sals Haus aufzuschlagen. Nicht bewusst, jedenfalls. Aber natürlich landete ich dort. Ich lehnte mich gegen eine Straßenlaterne und schaute zu ihrem Zimmer hinauf, als wäre ich ein durchgeknallter Stalker. Ich stand dort, versuchte, ruhiger zu atmen, und überlegte, was ich jetzt tun sollte. Es war noch nicht sehr spät. Bei Sal brannte Licht. Die Vorhänge waren zugezogen. Ich war so kurz davor, zur Haustür vorzugehen und zu klingeln. Ich war hin- und hergerissen. Ein Teil von mir wollte sich Sal schnappen, ihr die dickste Umarmung auf der Welt geben und beten, dass alles wieder so wurde, wie es einmal war. Und ein anderer Teil von mir wollte sie packen und schütteln und schreien und rufen: »Wie konntest du nur diese Dinge zu mir sagen?!« Ich wollte beides tun, und nichts davon. Ich tat nichts.
Ich drehte Sals Haus den Rücken zu und schlich die Straße runter. Der Gedanke, den ganzen Weg nach Hause zu laufen, schien plötzlich gar nicht mehr so klasse. Mir war schlecht, und ich war … traurig. Ohne weiter darüber nachzudenken, ging ich zur nächsten Bushaltestelle. Im Wartehäuschen saß ein Junge im Dunkeln. Das Licht musste kaputt sein. Ich setzte mich ans andere Ende der Bank. Ich hatte nicht die Kraft, stehen zu bleiben. Ich lehnte mich an das Glas und schloss die Augen. Ich atmete – einund aus, ein und aus – versuchte, alles aus meinem Kopf zu bekommen. Es regnete wieder. Ich konnte die Tropfen auf das Dach des Wartehäuschens prasseln hören und das glitschige Geräusch der Autoreifen auf dem nassen Asphalt.
Ich wusste, dass mich der Junge ansah. Manchmal kann man das spüren, oder? Mit einem Seufzer öffnete ich die Augen und drehte mich zu ihm. Er sah schnell weg – schuldbewusst. Und dann wieder zu mir, um herauszufinden, ob ich ihn noch ansah. Das tat ich. Er sah wieder weg. Und dann wieder zu mir hin! Ich bedachte ihn mit meinem Markenzeichen, der hochgezogenen Augenbraue.
Er stotterte: »Tschuldigung, ich … Tschuldigung.« Ich sagte nichts, sah ihn nur weiter an. Er war schon irgendwie heiß. Verwuscheltes, kurzes blondes Haar, etwas unrasiert. Ein schönes markantes Gesicht mit einer hübschen geraden Nase. Klamottenmäßig war er beim T-Shirt-über-Longsleeve-Look – fand ich gut. Trotz der Dunkelheit konnte ich ein paar leuchtend weiße Turnschuhe ausmachen, die unter seinen Jeans hervorschauten. Ich musterte ihn nicht von oben bis unten, das nicht. Ich nahm diese Informationen in einer Millisekunde auf (oder vielleicht auch in zwei).
»Kann ich dir helfen?«, fragte ich, aber nicht böse.
Er schaute
Weitere Kostenlose Bücher