vergissdeinnicht
warum. Es war nur ein blöder Song. Warum schien der auf einmal so wichtig zu sein?
»Tut mir leid, Grace.«
Ich seufzte. »Scheiß drauf. Wen interessiert’s? Es ist doch eh egal.«
»Bist du sicher?« Ethan war plötzlich ganz aufmerksam.
»Es ist nur ein Song. Der kann ja wohl nicht so wichtig sein.«
»Alles ist wichtig, sogar die kleinsten Dinge. Und manchmal sind das die wichtigsten Dinge überhaupt.«
Er stand auf und warf mir einen bedeutungsvollen Blick zu (also, er wäre bedeutungsvoll, wenn ich gewusst hätte, wovon er die ganze Zeit faselte), bevor er ging.
Das war vor zwanzig Minuten, und der blöde Song schießt mir immer noch im Kopf rum.
Ich will, dass es aufhört.
* * *
Noch ein Traum.
Ich lag im Bett in unserem alten Zuhause und blätterte durch ein Magazin. Ich hörte entfernt meine Mum plärren, dass das Abendessen auf dem Tisch stand. Ein paar Minuten lang ignorierte ich sie und las weiter. Dann meldete sich Dad zu Wort: »Abendessen, Grace!« Ich wusste, ich musste runtergehen, aber ich wollte nicht. Wenn ich nur in meinem Zimmer bleiben könnte, wäre alles okay. Ungefähr eine Minute verging, dann steckte Dad seinen Kopf zur Tür rein. »Gracie, wenn du nicht in dreißig Sekunden am Tisch sitzt, esse ich deine Bratkartoffeln auf. Und dann mach ich mit deinem Yorkshirepudding weiter …« Ich sah von meinem Magazin auf, lächelte und sagte: »Vergiss es! Wer zuerst unten ist!« Dad sagte: »Gilt!«, und verschwand aus meinem Blickfeld.
Gerade als ich vom Bett aufspringen wollte, warf ich einen letzten Blick auf das Magazin. Nur war es kein Magazin mehr, sondern eine Ausgabe der Lokalzeitung. Auf der Titelseite war ein Foto von Dad. Ich versuchte, die Schlagzeile zu lesen, aber sie ergab keinen Sinn. Alle Wörter auf der Seite waren nur verwackelte Linien. Sie krümmten sich wie Würmer. Ich bekam Panik. Warum konnte ich sie nicht lesen? Ich konnte doch lesen. Vielleicht, wenn ich meine Brille aufsetzte. Auf meinem Nachttisch lag eine Brille, aber ich trug keine Brille, das war schon mal komisch. Ich nahm sie. Es war Dads Lesebrille, aber ich setzte sie trotzdem auf. Eins der Gläser hatte einen Sprung. Ich sah mich in meinem Zimmer um, und alles hatte Risse und war kaputt und zerstört. Ich musste jeden Moment kotzen.
Ich wachte zu einem kleinen Ball zusammengerollt und an die Wand gedrängt auf. Meine Haut war schweißnass. Ich schaffte es gerade noch ins Bad, bevor sich mein Magen hob und seinen Inhalt durch meinen Hals trieb. Ich hustete und spuckte und würgte. Tränen liefen mir über die Wangen, und ich lag zitternd auf dem Badezimmerboden. Der Traum war so schrecklich real gewesen. Dad war da gewesen, lebendig und lachend, um seineAugen herum ganz viele Fältchen vom Lachen. In meiner Brust pochte ein dumpfer Schmerz. Ich schwöre, dass sich mein Herz anfühlte, als hätte es einen blauen Fleck oder so was. Ich lehnte meinen Kopf an die kühlen Keramikfliesen. Ich hörte, wie das Blut durch mein Gehirn rauschte, fühlte, wie mein Puls wie verrückt raste, wie sich mein Magen wieder zusammenzog. Ich fragte mich, ob ich sterben würde. Und dann muss ich ohnmächtig geworden sein.
Das Nächste, an was ich mich erinnern kann, ist Ethans Stimme, die meinen Namen ruft, ganz schwach, als käme sie vom anderen Ende eines langen Tunnels. Erst konnte ich nicht sprechen. Dann kam seine Stimme näher und näher und näher, und als ich die Augen öffnete, sah ich, wie er auf mich heruntersah. Um ihn herum schien ein blendend helles Licht. Es tat mir in den Augen weh, also schloss ich sie wieder fest. Ich konnte Ethans Hand an meiner Wange fühlen. Sie war warm und weich und beruhigend. Ich versuchte wieder, die Augen zu öffnen, und diesmal war es besser, weniger grell. Er half mir, mich aufzusetzen und an das Waschschränkchen zu lehnen. Ich sah an mir herunter. Auf meinem Shirt und auf dem Boden war überall Kotze. Ich spürte sie auf meinem Kinn und schmeckte sie in meinem Mund.
Ich bekam halbwegs mit, dass mir Ethan den Mund mit einem feuchten Handtuch abwischte, dann zog er mir das Oberteil über den Kopf und sagte mir die ganze Zeit, dass alles gut werden würde. Er half mir ins Bett und zog mich aus. Ich fühlte mich zu benommen und schlecht und komisch, um mich auch nur ein bisschen zu schämen. Ich kroch unter die Decke, und Ethan zog den Stuhl ans Bett und setzte sich. Ich starrte an die Zimmerdecke und fing an zu weinen. Die Tränen liefen mir seitlich am Gesicht runter,
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