vergissdeinnicht
kitzelten meine Ohren und befeuchteten mein Haar. Er hielt meine Hand.
Nach einer Weile fragte Ethan: »Willst du darüber reden, Grace?«
»Ich weiß nicht, was mit mir passiert. Diese Träume – irgendwas ist mit denen. Es kommt mir vor … ich weiß auch nicht … es kommt mir so vor, als wäre ich an der Grenze zu etwas.«
»Was meinst du?«
Ich setzte mich auf, wischte mir die Tränen aus dem Gesicht und wickelte mich in die Decke, bevor ich weitersprach: »Ich wünschte, ich könnte es besser erklären. Ich hab das Gefühl, dass ich nicht mehr unterscheiden kann, was real ist und was nicht. Alles, was ich habe, ist dieses Zimmer. Und du. Und das ist auch schon alles, was noch irgendeinen Sinn ergibt. Hier zu sein scheint irgendwie richtig zu sein, aber wie kann das sein ? Ich sollte Hausaufgaben machen oder mit meinen Freunden unterwegs sein – das ist ›normal‹. Aber das ist alles irgendwie so weit weg, dass ich fast nicht glauben kann, dass das mal mein Leben war. Und ich sitze hier, Tag für Tag, und schreibe und schreibe und schreibe darüber. Aber wozu? Warum mach ich das überhaupt?« Ich lachte kurz und hohl auf.
Ethan beugte sich in seinem Stuhl vor. »Grace, was hast du gemeint, als du gerade gesagt hast, es kommt dir vor, als wärst du an der Grenze zu etwas?« Er sprach mit Bedacht, als hätte er mit großer Sorgfalt die perfekten Worte ausgewählt.
»Ach, ich weiß nicht. Das hatte nichts zu bedeuten.«
Er sah enttäuscht aus. »Du musst dich mehr anstrengen, Grace. Sei ehrlich zu mir. Mehr verlange ich nicht.«
»Ich weiß nicht, was du meinst. Ich bin ehrlich. Ich weiß nicht, was du von mir hören willst.«
»Du bist so nah dran.«
»Okay, jetzt machst du mich echt ein bisschen wahnsinnig. Sag mir, worum es hier geht. Warum bin ich hier?«
Ethan schüttelte langsam den Kopf. Er stand auf und schob den Stuhl wieder an den Tisch. Ich fühlte mich, als hätte ich irgendwie versagt.
Als er zur Tür ging, sagte ich: »Tut mir leid. Bitte sei nicht sauer auf mich.« Es klang armselig und weinerlich, und ich hatte keine Ahnung, warum ich das sagte.
Ethan drehte sich zu mir um. »Ich bin nicht sauer auf dich, Grace. Ich wünschte nur, du wärst ehrlich – wenn nicht zu mir, dann doch wenigstens zu dir selbst. Was glaubst du, zu was du an der Grenze bist?«
Und bevor ich auch nur darüber nachdenken konnte, schoss die Antwort aus meinem Mund:
»Zur Wahrheit.«
* * *
Das war also ein kleines bisschen komisch. Offensichtlich hatte ich das Richtige gesagt, weil Ethan lächelte und nickte, bevor er ging. Und selbst, wenn er das nicht getan hätte, wusste ich, dass es die richtige Antwort war.
Ich hoffe, er kommt später zurück. Ich glaube, ich vermisse ihn ein wenig. Obwohl es komisch ist, mich mit ihm zu unterhalten – es ist nicht wie eine normale Unterhaltung. Manchmal hab ich das Gefühl, es bringt ungefähr genauso viel wie mich mit mir selbst zu unterhalten.
Ein Gedanke saust noch wie eine Flipperkugel durch mein Gehirn: die Wahrheit worüber?
DIE WAHRHEIT WORÜBER ?!
Ich war nie gut im Flippern gewesen.
Tag 23
Ethan kam nicht zurück. Dabei war ich mir so sicher gewesen, dass er es tun würde. Ich hab beschissen geschlafen. Zu viele Träume, zu viele Albträume, und kleine Schnipsel von Dingen, die keinen Sinn ergeben. Und die ganze Zeit war da dieser verschissene Song, den Ethan gestern gesummt hat. Er zog sich wie ein roter Faden durch diese seltsamen Szenen.
Ich hab selbst versucht, ihn zu summen, aber er klingt nie richtig. Mum hat immer gesagt, ich wäre unmusikalisch. Sie hat natürlich eine wundervolle Stimme. Als ich klein war, hat sie mir immer vorgesungen. Wenn ich zum Beispiel von einem Albtraum aufgewacht bin, kam sie und setzte sich zu mir ans Bett, strich mir übers Haar und sang leise. Ihre Stimme war wie Honig, vielleicht irgendwie mit ein bisschen Alkohol vermischt. Sie beruhigte mich jedes Mal und ließ mich wieder einschlafen.
Und dann, eines Tages, hörte das Singen auf.
* * *
Als Sal und ich im Bar Code ankamen, füllte sich der Laden schon. Aber von unserer Schule schien niemand dort zu sein. Die angesagten Leute würden jetzt schon alle bei Tanya sein, und der Rest war sicher in dem langweiligen Pub gleich neben der Schule. Wir schafften es, uns eine Nische in einer ruhigen Ecke zu schnappen – dieselbe, in der ich schon mit Sophie gesessen hatte. Sal bot mir an, die erste Runde zu holen, und ich sah ihr nach, wie sie zur Bar ging. Zwei Typen,
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