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vergissdeinnicht

vergissdeinnicht

Titel: vergissdeinnicht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cat Clarke
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hatte nicht gewollt, dass es so ernst wurde – und das auch noch bei unserem ersten Drink!
    Ein paar Drinks später, und es war wie in guten alten Zeiten. Wir lachten und lästerten und versicherten uns gegenseitig, dass wieder alles zwischen uns wie immer war. Es war wunderbar, Sal so fröhlich und normal zu sehen, nach allem, was geschehen war. Sie war gerade dabei, mir von einer Lehrerin an ihrer alten Schule zu erzählen, deren Schwäche es war, mit Oberstufenjungs rumzumachen, als ich etwas Unerklärliches tat. Ich weiß immer noch nicht, warum es mir gerade da in den Kopf kam, wo doch alles so gut lief. Aber da war es nun mal, und es rutschte in weniger als einer Millisekunde direkt von meinem Gehirn in den Mund.
    »Sal, hat dich jemand … hat dich jemand vergewaltigt?« Und dann war da Stille zwischen uns. Die Bar und alle Leute verschwanden. Es gab nur noch Sal und mich. Ich wollte, dass sich der Boden unter mir auftat und mich verschluckte, weil mir alles vollständig abzugehen schien, was auch nur in die Nähe von Taktgefühl kam. Ich sagte nichts. Sal auch nicht. Sie sah mich nur mit leicht zusammengekniffenen Augen an. Sie sah gar nicht sonderlich schockiert aus oder auch nur leicht überrascht. Wenn überhaupt war ich diejenige, die schockiert war – nach siebzehn Jahren immer noch schockiert über meine Fähigkeit, alles dadurch zu ruinieren, dass ich einfach nur den Mund aufmachte.
    Sal sprach als Erste, nachdem sie ein winziges bisschen an ihrem Drink genippt hatte. »Warum?«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Warum fragst du mich das? Warum jetzt?« Ihre Stimme war ruhig, ich konnte nichts heraushören.
    »Ich weiß es nicht. Ehrlich, ich weiß es nicht.«
    »Warum denkst du, dass mir … das passiert ist?« Sie konnte das Wort, das mir so leicht über die Lippen gegangen war, nicht mal aussprechen.
    »Das denke ich nicht.« Ich zögerte. Verzweifelt versuchte ich, genau die richtigen Worte zu finden, um die Situation nicht noch schlimmer zu machen. »Ich denke, ich versuche nur zu verstehen, was passiert ist. Ich will es verstehen – nein, das ist nicht ganz richtig – ich glaube, ich muss es verstehen. Vielleicht läuft alles nur darauf hinaus, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass du mit einem X-Beliebigen vögelst.«
    Sal schüttelte den Kopf.
    Eine Bedienung tauchte aus dem Nichts aus, räumte unsere Gläser ab und wischte den Tisch. Sie schien Jahre dafür zu brauchen und sicherzustellen, dass jeder Zentimeter blitzsauber war. Als sie endlich weg war, sagte Sal: »Was bedeutet das überhaupt?«
    Ich war verwirrt. »Was bedeutet was?«
    »Vergewaltigung.«
    Ich konnte kaum glauben, was ich da hörte. » Was ?«
    »Ich meine nur, dass manchmal die Sachen nicht so einfach sind. Es ist nicht alles nur schwarz und weiß.«
    »Äh … doch, ist es! Warum sagst du so was? Erzähl mir einfach, was passiert ist. Ich kann dir helfen. Wenn dich jemand … vergewaltigt hat, können wir zur Polizei gehen. Dazu ist es nicht zu spät. Du kannst psychologisch betreut werden oder so was.«
    Sal schüttelte den Kopf, und ich war langsam genervt. »Hör auf damit! Komm schon, Sal, erzähl’s mir.« Sie schüttelte noch heftiger den Kopf, als würde sie versuchen, Gedanken aus ihrem Gehirn zu schütteln.
    »Nein, damit hatte es nichts zu tun. Ich weiß auch nicht, warum ich das überhaupt gesagt habe. Das war einfach nur dummes Zeug. Gut, meine Runde.« Die Heiterkeit in ihrer Stimme klang falsch, und in ihren Augen lag ein etwas wahnhafter Blick.
    »Sal, warte …«
    »Nein. Es gibt nichts mehr dazu zu sagen. Niemand hat … mir das angetan. Weißt du, vielleicht sind wir uns doch ähnlicher, als du denkst.« Bevor ich antworten konnte, war sie schon an die Bar verschwunden.
    Die Jungs von eben waren immer noch da, und Sal ging auf sie zu und drängte sich direkt zwischen sie in eine nicht vorhandene Lücke. Natürlich störte das die Jungs kein bisschen. Ich sah zu, wie sie lachte und mit ihnen scherzte, den verzweifelten Jungen am Arm berührte, um zu betonen, was sie sagte. Er konnte eindeutig sein Glück nicht fassen und warf seinem Kumpel hinter Sals Rücken vielsagende Blicke zu. Seine Hand glitt auf ihren Hintern und blieb dort. Sal zuckte nicht mal mit der Wimper. Als der Barkeeper ihr unsere Drinks reichte, konnte der verzweifelte Junge sein Portemonnaie nicht schnell genug rausholen, um mit einem Tusch einen Zehner herumzuschwenken. Verlierer. Sal machte Anstalten, von der Bar wegzugehen, und

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