Vergissmichnicht
versicherte Alexandra und fragte sich, warum sie sich in seiner Nähe so unsicher fühlte. Unsicher und zugleich geborgen. Ob es an seinem Blick lag? Oder war es seine Rolle als Polizist? Die Scheu vor der Obrigkeit? Aber die hatte sie von Berufs wegen eigentlich längst überwunden. Gut, ganz am Anfang ihres Berufslebens hatte sie vor Bürgermeistern, Abgeordneten und auch vor Polizisten noch einen Heidenrespekt gehabt, aber das war lange vorbei. Dafür hatte sie sie im Alltag zu oft erlebt, hatte sie kennengelernt mit all ihren Unzulänglichkeiten, ihren Unsicherheiten, Ängsten und Sorgen. Aber Ole Strobehn, der verwirrte sie wirklich.
Die Stille, die sich zwischen ihnen ausbreitete, verstärkte ihre Unsicherheit. »Ich bin ja von oben bis unten durchgecheckt worden. Und eine Psychologin war auch schon bei mir. Außerdem muss ich dringend wieder an meinen Schreibtisch. Da wartet eine Menge Arbeit, viele ungeschriebene Artikel«, plapperte sie, weil sie die Stille nicht ertrug, und während die Worte, die vielen Worte, aus ihrem Mund sprudelten, dachte sie: Gott, was rede ich denn da? Er muss mich ja für komplett herzlos halten. Und gleich darauf schalt sie sich: Was kümmert es mich, wofür er mich hält?
»Ihre Arbeit, damit wären wir beim Thema«, fuhr Ole ruhig fort. »Gestern Nacht waren Sie leider nicht wirklich vernehmungsfähig. Doch heute kann ich Ihnen ein erneutes Verhör leider nicht ersparen. Sie wollten Frau Meierle beruflich treffen, ist das richtig?«
»Ja«, bestätigte Alexandra. »Tut mir übrigens leid, dass ich gestern einfach so umgekippt bin. Das passiert mir sonst nie, ich bin eigentlich nicht so zimperlich.«
Ole lächelte. »Ich würde es nicht unbedingt zimperlich nennen, wenn jemand nach dem Fund einer Leiche zusammenklappt. Das ist nur menschlich.« Er machte eine kurze Pause. »Wie kam denn das Treffen mit Frau Meierle zustande?«, fragte er dann.
»Sie hatte mich kurz vorher angerufen. Es ging um Carlo Bader, einen Mann, der vor 32 Jahren ermordet wurde.«
Ole runzelte die Stirn. »Ich verstehe nicht?«
Erst jetzt, als sie darüber sprechen musste, merkte Alexandra, wie nahe ihr all das gegangen war. Sie spürte einen dicken Kloß im Hals und es kostete sie größte Mühe, nicht in Tränen auszubrechen. Sie schluckte. »Ich arbeite an einer Serie. Sie heißt ›Geheimnisse der Heimat‹ und soll später auch als Buch erscheinen. Es geht um Geschichten aus der Vergangenheit, von denen heute noch Überbleibsel zu finden sind. Na ja, und im Zuge meiner Recherchen stieß ich auf Carlo Bader. Er ist ermordet worden. Erschlagen. Der Mord wurde nie aufgeklärt, dem wollte ich auf den Grund gehen. Aber wen immer ich auch fragte, keiner wusste Näheres, wenn sich auch noch einige an den Mord erinnerten. Carlo Bader war wohl nicht von hier.«
»Hm«, zeigte sich Ole interessiert, während er sich in seinem schwarzen, ledergebundenen Buch Notizen machte. »Aber Frau Meierle, die wusste etwas?« Er sah auf und sein Blick fuhr durch Alexandras Körper, raste in ihrem Innern und schleuderte dort alles durcheinander. Wie ein Hurrikan, der eine stabile Welt binnen Sekunden komplett verändern konnte. Es war wie ein Schock und zugleich eine Erkenntnis.
»Anscheinend«, erwiderte sie, als sie sich wieder etwas gefangen hatte. »Ich habe sie nach Carlo Bader gefragt und sie hat ganz komisch reagiert.«
»Was meinen Sie mit komisch?«, hakte Ole nach.
»Ich weiß auch nicht … abweisend irgendwie«, antwortete Alexandra. »Sie hat gesagt, sie weiß nichts, aber ich habe ihr angemerkt, dass sie lügt. Und dann, nachdem ich weg war, hat sie mich angerufen. Ein paar Mal. Und immer wieder aufgelegt. Schließlich hat sie sich gemeldet und mich um ein Treffen gebeten.«
»Und dann hat sie ausgerechnet die einsame Parkbank an einem derart dunklen Ort vorgeschlagen? Ein seltsamer Platz für eine alte Frau«, meinte Ole zweifelnd.
Alexandra spürte, wie ihr seine Worte einen Stich versetzten. Er würde ihre Aussage doch nicht etwa anzweifeln? Hatte er möglicherweise sie im Verdacht? Er würde ihr das doch wohl nicht zutrauen? Sie merkte, dass Ole sie ansah und auf eine Antwort wartete.
»Ja«, bestätigte sie rasch. »Das finde ich auch. Aber sie sagte, wir sollten auf keinen Fall zusammen gesehen werden.«
»Hatten Sie keine Angst?«
»Doch, große sogar. Aber die Neugierde – oder vielleicht eher der Wunsch, endlich etwas über Carlo Bader herauszufinden, war größer. Viel größer. Das
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