Vergissmichnicht
finde es toll, wenn Menschen den Mut haben, ins Ausland zu gehen. Darf ich Sie vielleicht auf den Schreck zu einer Tasse Kaffee einladen? Dann können Sie mir mehr erzählen.«
Marlene blickte sie nachdenklich an. Eigentlich war es so gar nicht ihre Art, mit einer Wildfremden eine Tasse Kaffee trinken zu gehen. Und schon gar nicht mit einer Deutschen, hatte sie doch bisher alles Deutsche, alles, was sie daran erinnerte, strikt abgelehnt. Doch während sie schon den Mund öffnete, um höflich, aber bestimmt abzusagen, überlegte sie es sich anders. Ihre Abscheu allem Deutschen gegenüber war langsam und schleichend und ganz im Verborgenen einer tiefen Sehnsucht nach der Heimat gewichen. So schrecklich die Dinge auch gewesen sein mochten, die sie damals zur Flucht und zum endgültigen Bruch mit ihrer Familie verleitet hatten – jetzt träumte sie wieder von dem lieblichen Bodenseeufer, roch den Duft der Apfelblüte und schmeckte den edlen Tropfen des Bodenseeweines auf ihrer Zunge.
Wie es ihnen wohl ging? Wie es ihr wohl ging? Rasch scheuchte sie die Gedankenwolken beiseite. Ihr gegenüber stand eine Frau aus ihrer Heimat. Dass sie aus Süddeutschland kam, hörte Marlene am Klang ihrer Sprache. Herrlich weich wie Samt und Seide klang das. Und sie wartete auf eine Antwort, die Frau aus der Heimat. Marlene sah ihr in die Augen und lächelte sie an. »Gerne«, sagte sie. »Gehen wir.«
Sie fanden einen Tisch in einer Bar direkt am Hafen, die vor gut gekleideten Touristen überquoll. Weiße Lederpolster, Designerkleider, geliftete Gesichter, gebleichte Zähne. Blitzende Diamantringe an manikürten Händen. Rote, lachende Münder. Endlos lange Wimpern, mittels Wimperntusche sorgsam aneinandergeklebt.
Marlene sah, dass ihre Begleiterin erbleichte, als sie auf die Karte sah. Kein Wunder. Zwölf Euro für einen einfachen Kaffee und 200 Euro für ein Gericht waren happige Preise. Lächelnd beugte sie sich über den kniehohen, massiven Nussbaumholztisch und legte ihre Hand auf die der anderen. Es war ein seltsamer Kontrast. Ihre reich geschmückte Hand mit den perfekt lackierten Kunstnägeln auf der rauen Hand der anderen, die nur ein schmaler Goldreif zierte. Marlene bemerkte, dass ihr Gegenüber abgekaute Fingernägel hatte. Noch ein Mensch mit Problemen, dachte sie.
»Darf ich Sie einladen? Es wäre mir eine große Freude«, bat Marlene.
»Ich … nun ja … eigentlich wollte ich doch …«, stammelte ihr Gegenüber unbeholfen.
»Bitte. Schließlich sind Sie in meiner Stadt zu Gast«, beharrte Marlene und winkte mit der freien Hand und ohne aufzublicken dem vorbeieilenden Kellner, der ganz in Weiß gekleidet war. »Ein Gin Tonic auf den Schreck?«, fragte sie und bevor die andere antworten konnte, hatte sie schon bestellt.
Während Marlene ihre Bestellung aufgab, spürte sie, dass die Fremde sie anstarrte, und sah aus dem Augenwinkel, dass sie dabei nervös die Finger ineinanderkrampfte. Wieder beschlich sie dieses komische Gefühl, das sie ganz zu Beginn ihrer Begegnung am Hafen gehabt hatte. Das Gefühl, dass die Frau nicht zufällig gegen sie gestoßen war. Dass sie einen Plan verfolgte. Dass sie irgendetwas von ihr wollte. Rasch, fast ruckartig, wandte sie den Kopf und blickte ihrem Gegenüber direkt ins Gesicht. Sofort senkte die Mausgraue den Blick, aber sie war nicht schnell genug. Marlene hatte sie noch ganz deutlich gesehen, die eisige, bedrohliche Kälte hinter den spiegelnden Brillengläsern.
Neuntes Kapitel
Überlingen
Alexandra legte ihr Buch zur Seite, als es klopfte. Sie hatte sich ohnehin nicht auf die Lektüre konzentrieren können, hatte jeden Absatz drei, vier Mal lesen müssen, bevor sie seinen Sinn verstand. Wieder und wieder wanderten ihre Gedanken zu der alten Dame, wie sie dagelegen hatte im hellen Scheinwerferlicht. So würdelos hatte das ausgesehen, so entsetzlich würdelos. Schutzlos und zerbrechlich hatte sie gewirkt. Nein, nicht zerbrechlich. Zerbrochen. Zerstört. In all dem Blut. Das Blut an ihren Händen. Stundenlang, so kam es ihr vor, hatte sie sich die Hände gereinigt, nicht nur am See, sondern auch hier, im Krankenhaus. War immer wieder aus ihrem Krankenhausbett aufgestanden, in das man sie für eine Nacht zur Beobachtung verbannt hatte, war ins angrenzende Badezimmer gegangen und hatte sich die Hände gewaschen und desinfiziert. Es war wie in einem Film. Oder wie bei einer Schallplatte, die einen Kratzer hatte und immer und immer wieder die gleiche Stelle spielte. Zuerst kam
Weitere Kostenlose Bücher