Vergissmichnicht
ist vielleicht so eine Art Berufskrankheit.«
Ole nickte nachdenklich. »Das kann ich verstehen.« Plötzlich blickte er auf und Alexandra unmittelbar in die Augen. Obwohl er sie in den vergangenen Minuten schon sehr oft sehr direkt angesehen hatte, obwohl ihr sein Blick kurz vorher noch durch und durch gegangen war, bemerkte sie zum ersten Mal, dass seine Augen von einem tiefen Grün waren. »Sie waren ganz schön mutig«, stellte Ole fest und strich sich eine blonde Haarlocke, die ihm immer in die Stirn fiel, zurück.
Alexandra wurde rot. »Danke«, murmelte sie leise und senkte den Blick verlegen auf die schneeweiße Krankenhausbettdecke.
»Und als Sie ankamen? Konnten Sie Frau Meierle sehen?«
Alexandra schüttelte den Kopf. »Nein. Und ich habe sie gerufen, aber keine Antwort bekommen. Ich dachte, sie wäre noch nicht da. Und dann wollte ich mich auf die Bank setzen, und da …«
Sie schluckte. Sie waren hart, die Erinnerungen an jene Entdeckung. Ganz trocken war ihr Mund mit einem Mal und schon wieder hatte sie den beinahe unbezwingbaren Drang, sich die Hände zu waschen. Zeigen wollte sie dem Kommissar aber nicht, was in ihr vorging. Sie wollte sein Bild der mutigen Frau auf gar keinen Fall zerstören.
Doch Ole bemerkte ihre Qual. Sah ihren flackernden Blick, der sich nicht nach außen, sondern nach innen zu richten schien und mit dem sie Bilder betrachtete, die nur sie sehen konnte. Grausame Bilder. Er kannte diesen nach innen gerichteten Blick aus eigener Erfahrung. Er wusste um das Gefühl, die Bilder nicht ertragen zu können. Er kannte die Angst, dass die Bilder sich im Inneren unendlich ausdehnen und aufblähen würden. So lange, bis sie einen ganz ausfüllten, keinen Platz mehr für anderes ließen. So weit, dass man sie nicht mehr verdrängen konnte, dass sie sich machtvoll ins Bewusstsein schoben, bis sie einen völlig beherrschten und man das Gefühl hatte, wahnsinnig zu werden.
Er spürte, dass sie einen Moment brauchte, um sich zu fangen. »Soll ich Ihnen ein Glas Wasser bringen?«, bot er leise an.
Alexandra sah ihn an und ihr Blick schien von weit her zu kommen. »Ich … ja, danke, das wäre nett«, stammelte sie schließlich, dankbar um den Aufschub.
Ole stand auf, ging ins angrenzende Badezimmer und ließ Leitungswasser in den Zahnputzbecher fließen. Und nutzte die Gelegenheit, sich umzusehen. Ihre persönlichen Kosmetika standen dort. Klassische Utensilien einer Frau. Zahnbürste und Zahncreme für extraweiße Zähne. Tages- und Nachtcreme, Reinigungstücher, Bodylotion, Deodorant, eine Haarbürste, in der sich einige ihrer leuchtend roten Locken verfangen hatten, und Schminksachen. Alles ganz normal. Natürlich war alles ganz normal, er hegte keinerlei Verdacht gegen sie, auch wenn sie natürlich automatisch überprüft werden musste.
»Danke«, sagte Alexandra kurz darauf, als er ihr das Glas Wasser reichte. Die Pause hatte ihr gutgetan. Sie hatte mehrfach tief durchgeatmet und sich gesagt, dass es besser war, sich den Bildern, den schrecklichen Bildern, zu stellen, als sie zu verdrängen. Sie hatte sich klargemacht, dass es nun zwei Morde gab, die aufgeklärt werden mussten. Den an Elisabeth Meierle und den an Carlo Bader. Und dass sie eine schlechte Journalistin wäre, wenn sie nun klein beigäbe. Sie würde alles tun, um Ole bei der Aufklärung des Mordes zu unterstützen und sie hoffte, dass dadurch auch endlich Licht ins Dunkel des Mordes an Carlo Bader kommen würde.
Sie trank das Glas in einem Zug gierig aus, stellte es auf den Krankenhausnachttisch, auf dem zahlreiche Bücher, ihr Notizbuch, ihr Stifteetui, ihr iPhone und ihr MacBook lagen, und sagte dann: »Ich wollte mich auf die Bank setzen. Und dann habe ich in etwas Warmes, Klebriges gefasst und einen weichen Körper gespürt. Ich glaube … ich glaube, ich wusste sofort, dass es Blut ist.«
»In der Nacht haben Sie den eintreffenden Einsatzkräften gesagt, dass es sich bei der Toten um Elisabeth Meierle handelt. Woher wussten Sie das?«
Alexandra dachte nach. »Sie haben recht. Ich wusste es nicht. Ich konnte es eigentlich gar nicht wissen. Es schien mir nur logisch, schließlich war ich mit ihr an genau dieser Stelle verabredet.«
»Waren Sie pünktlich?«
»Ja. Vielleicht fünf Minuten zu spät. Ich habe nicht auf die Uhr gesehen.«
»Wie viel Zeit ist zwischen dem Telefonanruf und Ihrem Eintreffen am Tatort vergangen?«
»Dreißig Minuten ungefähr. Wir hatten verabredet, dass wir uns in einer halben
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