Vergissmichnicht
Stunde treffen wollten. Sie sagte, dass sie etwas weniger als eine halbe Stunde brauchen würde.«
»Sie könnte also durchaus zehn Minuten vor Ihnen am Tatort gewesen sein«, konstatierte Ole. »Der Mörder hatte genug Zeit.«
Alexandra schauderte bei dem Gedanken, dass sich der Mörder vielleicht noch in der Nähe aufgehalten hatte, als sie am Tatort eingetroffen war. Das schien sogar sehr wahrscheinlich. Ihr war das bisher nur noch nicht so klar gewesen.
»Ist Ihnen am Tatort irgendwas aufgefallen?«
»Nein, ich denke, der Schreck war zu groß«, antwortete Alexandra.
»Denken Sie bitte ganz genau nach. Jedes Detail kann helfen. Versuchen Sie, sich den Abend nochmals vor Augen zu führen. Waren da irgendwelche Geräusche? Oder Gerüche?«
Alexandra schloss die Augen. Sofort war alles wieder präsent. Die Dunkelheit, der Nebel, das Käuzchen. Doch da war noch etwas anderes. Ein schwacher Duft nach Parfüm, das in der Erinnerung ekelerregend roch. Es war ein aufdringliches Parfüm gewesen und sie hatte sich noch gewundert, dass die stilvolle alte Dame es benutzte. Und sie erinnerte sich an ein Boot auf dem See, einen Motor, der irgendwo im dichten Nebel startete. Wie hatte sie das nur vergessen können!
Sie berichtete Ole davon.
»War es eher ein Männer- oder ein Frauenparfüm?«, erkundigte er sich und machte sich eifrig Notizen in sein schwarzes Büchlein.
»Schwer zu sagen«, grübelte Alexandra. »Ich habe mir diese Frage nicht gestellt, weil ich davon ausging, dass das Parfüm zu Frau Meierle gehört. Aber es kann schon auch ein Herrenparfüm gewesen sein.«
»Und das Boot? War es weiter weg?«
»Nein, ich glaube nicht«, sagte Alexandra. »Es war ziemlich laut.«
»Konnten Sie erkennen, um was für eine Art von Boot es sich handelte?«
»Nein, es war so nebelig und außerdem dunkel. Ich konnte gar nichts sehen.« Alexandra zuckte entschuldigend mit den Schultern.
»Was haben Sie gemacht, nachdem Sie die Leiche gefunden haben?«
»Ich weiß es nicht mehr genau«, gab Alexandra zu und starrte auf ihre Hände. »Ich glaube, ich habe geschrien. Und dann bin ich zum See gerannt und habe mir die Hände gewaschen. Ganz lange. Und dann habe ich die Polizei gerufen.«
»Sie haben immer noch das Gefühl, dass das Blut an Ihren Händen klebt, oder?«, fragte Ole leise.
Alexandra nickte und spürte, wie sich erneut ein Kloß in ihrem Hals bildete. Sie war eigentlich eine sehr beherrschte Person und hatte nicht allzu nah am Wasser gebaut. Aber wenn sie etwas Schlimmes erlebt hatte und jemand Verständnis und Mitgefühl zeigte, dann war es ganz schnell vorbei mit der Fassung. Außerdem tat es ihr einfach gut, dass da jemand saß, der fragte, wie es ihr ging. Eine Rolle, die eigentlich Ralf hätte einnehmen müssen, dachte Alexandra bitter.
Die Worte, die sie schließlich herausbrachte, klangen gepresst. »Ja«, gestand sie. »Ja, und ich glaube, das geht nie wieder weg.«
Dann brach sie in Tränen aus. Ganz selbstverständlich zog Ole sie an sich und ließ sie weinen. Alexandra spürte den glatten Stoff seines dunkelblauen Hemdes und seine festen, starken Hände, die über ihren Rücken strichen. Sie brauchte lange, bis sie sich beruhigt hatte. Als ihre Schluchzer seltener wurden, ließ Ole sie los und sah ihr in die Augen. Sein Gesicht war ganz nah an ihrem, als er mit einer Zuversicht, die er bei seinem eigenen, traumatischen Erlebnis damals keineswegs empfunden hatte, versicherte: »Doch. Doch, das geht wieder weg. Das mag sich vielleicht etwas philosophisch anhören, aber Blut klebt nur an den Händen dessen, der getötet hat. Selbst, wenn er gar nicht mit dem Blut in Berührung gekommen sein sollte. Es hat sich in seine Hand eingebrannt. Für immer. Aber Ihre Hände, die sind rein.«
Während er die Worte aussprach, nahm er eine von Alexandras Händen, die auf der weißen Krankenbettdecke lagen, drehte die Handfläche nach oben und strich mit dem Finger ganz sacht darüber. Und dabei fragte er sich, ob er eigentlich wahnsinnig war. Das hier war eine Vernehmung, verdammt noch mal, und er verhielt sich mehr als unprofessionell. Hielt Händchen mit der Befragten und schwafelte dazu noch rum. Aber irgendwie weckte sie seinen Beschützerinstinkt, den Drang, ihr zu versichern, dass alles gut werden würde. Dass er sie in den Arm genommen hatte, warf er sich nicht vor. Auch nach dem Banküberfall in Hamburg hatte er die Opfer, die Eltern des toten Kindes, in die Arme genommen. Und er hatte mit ihnen
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