Vergissmichnicht
geweint. Danach hatte er sich furchtbar geschämt. Ein Polizist darf nicht weinen, hatte er damals gedacht. Ein Polizist ist groß und stark, nichts haut ihn um. Doch der Psychologe des Einsatznachsorgedienstes hatte ihn eines Besseren belehrt. »Einsatzkräfte sind Menschen und Menschen haben Empfindungen«, hatte er schlicht gesagt. Und: »Wenn Sie ein solcher Fall irgendwann einmal kalt lässt, dann ist das der Zeitpunkt, an dem Sie Ihren Dienst quittieren sollten.« Der Psychologe hatte ihm den Unterschied zwischen Mitleid und Mitgefühl ausführlich erklärt. »Die Opfer wünschen sich unser Mitgefühl«, hatte er erläutert. » Mitleiden dürfen wir aber nicht, das irritiert die Opfer. Wir müssen für sie stark sein, ihnen sagen, wo es lang geht und was sie tun sollen. Wir dürfen schon auch mal aus der Fassung geraten, aber danach müssen wir uns aufrappeln und den Opfern helfen, wo wir nur können.«
Diese Worte waren für Ole zu einer Maxime seines Handelns geworden. Doch er kannte sich inzwischen gut genug, um zu wissen, dass die Gesten, die er gegenüber Alexandra an den Tag legte, trotz allem unprofessionell waren. Weil sie nicht dem Wunsch eines Polizisten entsprangen, einem Opfer zu helfen, sondern dem Wunsch eines Mannes, eine Frau zu beschützen.
Um schleunigst wieder auf das eigentliche Thema zurückzukommen, räusperte Ole sich und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Was können Sie mir denn über den Mord an diesem Carlo Bader sagen?«
Auch Alexandra brauchte ein paar Sekunden, um wieder auf die sachliche Ebene zurückzugelangen. Er war ihr so nah gewesen, so vertraut … »Ich …«, setzte sie an. »Viel kann ich Ihnen darüber leider nicht sagen. Ich weiß nur, dass Carlo Bader 1980 tot aufgefunden wurde. Bei der Höhle im Molassefels im Stadtgarten neben der Höhle zum Kneippbecken. Kennen Sie die?«
Ole schüttelte den Kopf. »Nein, die müssen Sie mir mal zeigen. Wir könnten ja mal gemeinsam einen Spaziergang dorthin machen.« Im nächsten Moment hätte er sich auf die Zunge beißen können. Was war nur an dieser Frau, dass er sich ständig derart unprofessionell verhielt?
»Gern«, lächelte Alexandra.
»Wie haben Sie von dem Mord an Carlo Bader erfahren?«
»Ich habe auf der Suche nach spannenden alten Geschichten unser Zeitungsarchiv durchforstet und bin auf mehrere Artikel zu dem Mord gestoßen. Das war eine große Aufregung damals, aber den Täter hat man wohl nie gefunden. Ich habe den damaligen Lokalchef, der jetzt in Pension ist, besucht. Der erinnerte sich auch tatsächlich noch sehr gut an den Fall, schließlich kommt ein Mord in Überlingen nicht alle Tage vor. Er konnte mir aber auch nichts Näheres sagen. Auch meine anderen Ansprechpartner wussten nichts. Bis ich auf Frau Meierle stieß.«
Die Zimmertür flog auf, eine Krankenschwester eilte geschäftig herein. »Visite«, flötete sie. »Ich muss Sie leider bitten, draußen zu warten, lieber Herr Hauptkommissar.«
»Natürlich«, nickte Ole und stand auf. »Wir waren ohnehin fertig. Sie müssen das natürlich alles noch auf dem Revier zu Protokoll geben, wenn Sie wieder draußen sind. Kommen Sie vorbei?«
»Klar«, nickte Alexandra. »Wann soll ich kommen?«
»Am besten gleich morgen«, grinste Ole. »Wenn Sie heute tatsächlich schon wieder gehen wollen, brauchen wir auch keine Zeit zu verlieren.«
Zehntes Kapitel
Konstanz
»Herr Gruber?«, fragte Ole den Mann, der ihm soeben die Tür zu seiner eleganten, hochmodernen Villa geöffnet hatte.
»Ja bitte?«
»Polizei Überlingen. Strobehn, das ist meine Kollegin Grundel. Können wir Sie kurz sprechen?«
Wolfgang Gruber zögerte und verzog das Gesicht. »Das ist jetzt eigentlich ganz und gar ungünstig. Ich habe in einer halben Stunde einen Termin mit potenziellen Wählern und wollte mich noch vorbereiten. Ich kandidiere als Oberbürgermeister, müssen Sie wissen.« Ole beobachtete amüsiert, dass Gruber sich regelrecht aufplusterte, als er diese Worte sprach. Er wackelte leicht mit dem Oberkörper, streckte die Brust heraus und reckte das Kinn nach vorne.
»Ihre Wähler werden warten müssen. Wir ermitteln in einem Mordfall«, mischte sich Monja Grundel, die heute zu Oles Erheiterung mit einer grellblauen Haarsträhne zum Dienst erschienen war, barsch in das Gespräch ein. »Dürfen wir reinkommen?«
»In einem Mordfall ?«, fragte Gruber. »Und warum kommen Sie damit zu mir ? Und was macht überhaupt die Überlinger Polizei hier? Warum sind keine
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